Ein Atembild von der Psychose
Über das wirkliche Entstehen der schizophrenen Psychosen weiß man immer noch recht wenig. In der Erforschung von deren biologischen
Grundlagen gibt es Hinweise auf frühe Reifestörungen in der Gehirn- entwicklung mit entsprechenden Stoffwechselprozessen und biochemischen Veränderungen. Bei Schizo- phrenen soll in bestimmten Hirnregionen zu
viel Dopamin vorhanden sein. Über die Ursache der Schizo- phrenie besagt dies noch ebenso wenig wie beispielsweise die Begründung mit der konstitutionellen Ver- anlagung, für welche die Vererbungsforschung
keine befriedigende Erklärung geben konnte. Mit biolo- gischen Erklärungsmodellen konkurrieren lerntheoretische, die Fehler und Belastungen in der psycho- sozialen Entwicklung für das Auftreten einer
Psychose verantwortlich machen.
Für sich allein genommen stellt keiner dieser Faktoren eine notwendige oder hinreichende Bedingung für eine derartige Erkrankung dar. Aber alle
Vorstellungen, Theorien und Befunde münden nach dem heutigen Wissensstand in folgender Antwort: Menschen, die schizophren erkranken, sind empfindsamer gegenüber Innen- und Außenreizen. Sie sind
verletzlicher als andere, wenn es um Belastungen aus der sozialen Um gebung, um psychische Wirkungen körperlicher Erkrankungen oder um eigene innere Konflikte geht.
. . .
Auch Atemerfahrungen sprechen dafür, in frühkindlichen Kontaktverweigerungen einen Grund für das psychische Erkranken zu sehen. Durch einen
sinnlich-vitalen Austausch mutet ein Säugling seine Mutter an, sich ihm zuzuwenden, und umgekehrt bestimmt die Mutter durch die Art und Weise ihres Verhaltens die Sphäre zwischen beiden. Durch Zuwendung, Kontakt
und Begegnung oder durch deren Ausfall wird die Atembewegung eines Menschen im Kleinkindalter fürs Erste als eine sinnlich-vitale Verhaltensweise eingelebt.
. . .
Im intimen Ineinander des Verhaltens von Mutter und Kind haben beide derart enge Fühlung miteinander, dass wir nicht von Handlungsausdrücken eines
Subjekts auf ein Objekt in der neuzeitlichen Grammatik sprechen können. Es macht auch keinen Sinn, von frühkindlicher Symbiose zu reden, um die innigste Nähe zu kennzeichnen, die in einem von beiden gestimmten
Raum entsteht, in welchem beide einander zugeneigt sind, noch nicht den anderen abwehren oder vor ihm fliehen. Beide stehen in Resonanz zueinander, in welchem der Säugling zunächst aufgrund seiner
angelegten präverbalen Eutonie glückseelig eintritt.
. .. .
Eine robuste Widerstandsorganisation der Muskelsinne, welche davor schützt, von fremden Reizen überschwemmt zu werden, fehlt dem Empfindsamen.
Er ist gegenüber vielen äußeren Reizen schutzlos ausgeliefert, weshalb er sich von diesen zurückzieht und dann doch von ihnen eingeholt wird und er hypochondrisch wird. Einer Kontaktverweigerung
kann auch durch eine erhöhte Kontrollspannung der Muskulatur entgegengewirkt werden. Mit ihrer Hilfe wird eine tendenziell neurotische Beziehung zur Außenwelt durchgehalten. Wird eine eingeschränkte
tonische Verarbeitungsweise in allen Lebensbereichen vorherrschend, droht bei anhaltender Eskalation von Konflikten das Abgleiten in die psychische Erkrankung, die Psychose oder Neurose.
Bei der Psychose ist der eigene Kosmos verrückt, weil das Fremde aufgrund der zurückgeschobenen Atemraumgrenze bis hinter die Körperkontur
abwehrlos in den eigenen Innenraum einkehren und zu gering innervierte Muskelspannungen besetzten konnte. Deshalb werden in der Psychose die Objektbesetzungen aufgegeben und das eigene Ich wird durch das
eingetretene Fremde und nicht das hinaustretende Eigene überbesetzt. Beim Psychotiker ist die leibliche Grenze in der Gefahr zu zerfallen, wenn er sich aus einer anhaltenden Konfliktsituation zurückzieht und in
sein Inneres abtaucht.
Dagegen ist der emotional auf Kampf eingestellte Neurotiker wegen seiner entstellten Näheerfahrung auf Objekte fixiert. Aufgrund seiner muskulären
Panzerung ist er . . .
Könnte nun der schizophrene Schub dadurch charakterisiert werden, dass die Unterscheidung zwischen Eigen- und Fremdreizen auf sensorischer Ebene
nicht mehr geleistet werden kann, weil die tonische Anpassungsreaktion gegenüber Außenreizen bereits im Einnehmen einer sphärischen Raumlage ausfällt und dadurch die leibliche Grenze zerfällt? Alle
klinischen Berichte über das Leiberleben schizophren Erkrankter, die mit durch Eugen Bleuler festgestellten „Körperhalluzinationen“ beginnen und Leibgefühlsstörungen dafür haftbar machen, dass auch die
Strukturbildung kognitiver Schemata gestört wird und eine Wirklichkeitsrepräsentation misslingt, sprechen für eine solche Überlegung.. Das Ich kann aktuell dekomposiert werden, weil der tiefste Grund
aller tonischen Raumorientierung, ein stabiler Lagetonus wegen der hohen Empfindsamkeit eines Psychotikers nicht existiert und daduch transpersonale Bezogenheiten, heimatliche Aufgehobenheit oder familiäre
Geborgenheiten kaum noch gelebt werden können.
Meine Vermutung beruht auf einer außergewöhnlichen Beobachtung, die direkt den Atemmechanismus, die paradoxe Zwerchfellbewegung nämlich, für das
psychotische Erleben offenbart und dementsprechende Schlussfogerungen nahelegt. Der Einblick in die kurze Zusammenarbeit mit Marianne S. könnte die Sinne dafür schärfen, wie sich ein psychotisches Erleben
manifestiert, weil alle lagetonische Positionierung in einem sensorisch-vitalen Raum dermaßen untergrraben ist, dass nicht mehr zwischen dem Eigenen und dem Fremden unterschieden werden kann. .
Über einige Wochen hinweg kam Marianne S. immer wieder zu mir in die Behandlung, wenn die Stimmen, die sie seit Tagen hörte, völlig
unerträglich geworden waren. Nach der ersten Atembehandlung mit mir, waren diese nämlich verschwunden. So sollte ein Besuch bei mir genügen, um wieder für einige Tage Ruhe zu haben. Dass dieses Vorgehen
ausnahmslos gelang und bei ihr mit einigen Griffen ein schizophrener Schub - es war so als würde man einen Hebel umlegen - ausgeschaltet werden konnte, lag an unüblichen Voraussetzungen, die deshalb hier
beispielhaft über die tonische Natur von Geisteskrankheiten informieren und die psychiatrische Klinik auffordern, nach dentalen Belastungen zu suchen, die den Muskeltonus in die Überempfindlichkeit hinein
zerrütten.
. . .
Auf den ersten Blick war ihre Atembewegung unypisch für eine Schizophrenie. Durch die extrem verkrümmte Wirbelsäule stand ihr Zwerchfell
nämlich tief und ihr Atem hing dementsprechend spannungslos im Becken, weil sie wegen des Buckels und der verschobenen Zwischenrippen um das Zwerchfell keine Entfaltungsmöglichkeiten in den Brustraum hatte.
Dagegen vermag bei dieser Erkrankung der Atem den Eigenraum deshalb nicht zu stabilisieren, weil er weder über Beckenkraft verfügt noch sich im Becken aufstaut und stattdessen mit einer überschießend
hektischen Grundqualität des ständigen Hochatems ausgestattet ist. Ein derart angelegtes Ungleichgewicht radikalisiert sich in eigenartiger Weise, wenn eine schizophrene Episode eintritt. Während dieser
setzt die Bewegung des Atems nicht nur oberhalb des Zwerchfells ein. Damit ein den Geist verwirrender Schub ausbricht, muss sich das Zwerchfell paradox bewegen. Dafür wiederum, dass es beim Einatem nach oben
ausschlägt und schon gar nicht mehr den Weg nach unten sucht, war nun die Anatomie von Marianne S. vorzüglich disponiert.
Wegen ihrer Skoliose war bei Marianne S. die Zwischenrippen-Muskulatur um das Zwerchfell so fest geworden, dass anatomisch kein einheitlicher
Rumpfraum mehr vorhanden war, in dem sich die Atembewegung hätte dynamisch entfalten können. Es gab für sie nur entweder ein Unten oder ein Oben, jedoch kein Zusammen. Wegen dem in jahrzehntelanger
Leidenserfahrung hinuntergedrücken Zwerchfell war die Massage der darunter liegenden Eingeweide gering und die Peristaltik des Darmes ermüdet. Wenn aber die Atembewegung in besonderen Beanspruchungssituationen
dennoch über dem Zwerchfell einsetzen sollte, konnte sich diese deshalb allzu leicht in einen flachatmenden Automatismus der Angst und Entzweiung verhaken, der bei Marianne S. in eine paradoxe Zwerchfellbewegung
übergehen konnte, nachdem ihre Muskulatur - wie ich hier nur auf Grund meiner Erfahrungen vermuten und theoretisch erschließen kann - wegen Kunststoffbelastungen im Becken und den Beinen zu gering
gespannt war.
Bei einer paradoxen Zwerchfellbewegung ist es nahezu unmöglich, durch eine Atembehandlung in Kontakt zur Person zu treten. Jede Annäherung
wird als ein Angriff erlebt und dementsprechend mit schizoider Ataxie im Atemrhythmus beantwortet. Bei Marianne S. aber war dies ganz anders. Sie hatte wegen ihrer Wirbelsäulenverkrümmung eine so eigenartige
verbaute Atemmechanik, die gestattete, recht zielsicher zu intervenieren. Ich musste bei ihr nur den Brustkorb so drücken, dass sich das Zwerchfell wieder beim Einatmen absenkte. Und dies war aufgrund der starken
Skoliose kein Kunststück.
Es galt gerade jene Disposition auszunutzen, wegen der neuerdings ihre Einatembewegung paradox nach oben gedrückt wurde. Die
Wirbelsäulenverkrümmung hielt ansonsten ihre Zwerchfellbewegung unten gefangen und gewährte ihrem müden Atem keinen Raum, um sich auch im Brustkorb auszudehnen. Damit wurde aber auch ein Hochrutschen nach oben
abgeblockt. In der Atembehandlung galt es, den Einatem in dieses Gefängnis hinunterzudrücken. Da ihre anatomische Körpermechanik eigenartig ins Entweder-Oder gestellt war, konnte mit einigen reflexanregenden
Griffen die paradoxe Einatembewegung stillgelegt werden. Es war so, als würde ein Hebel umgelegt, wodurch das wahnhafte Erleben ausgeschaltet werden konnte.
Allein mit der Körperdynamik der Schwere, die sich durch ihre lange Krankheitsgeschichte in sie eingegraben hatte, hätte Marianne S. ohne
schizophrene Störungen leben können. Doch die enge Pforte zu ihren im Becken aufgestauten Atembewegungen war das Ausfalltor zum wahnhaften Erleben geworden, nachdem sich ihr Muskeltonus in einer Weise hin zu einer
Überempfindlichkeit gewandelt hatte und der Schultergürtel in Extremspannungen gehalten war, die ich als eine typische Kunststoffbelastung erkenne.
Anscheinend war sie trotz früherer Robustheit durch ihr Zahnmaterial überempfindlich geworden, wodurch ihr Atem beim Einatmen nach oben gehen
sollte.
Textananfang
Inhaltsverzeichnis “Ruinöse Zahnwerkstoffe”
|