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Markus Fußer
Die anthropologische Frage I
Zum geschichtlichen Charakter des Atems als leibliches PhÀnomen,
ATEMRAUM, Karlsruhe 2002

 Inhalt

Vorbemerkung (11)

SphÀrenbildung
Einheitsstiftende Selbstbewegung (17)
Der Resonanzgrund sakraler Vergesellschaftung (22)
Indirektes VerhÀltnis zur Eigennatur (29)
Geschichtliche Differenzen (34)
RationalitÀten der Modernen (39)
Vom Mythos zum Sein und Logos (45)
Rekurse auf den Mythos (53)

Jenseits des mystischen Leibes
Anschauliche Natur und Menschenkunde (59)
Die Abtreibung des Unmittelbaren (66)
Die Thematisierung der VitalbedĂŒrfnisse (70)
Der lebensphilosophische Gegenstoß (77)
IntentionalitÀt (85)
Die eigentliche anthropologische Frage (89)

Westliche Atemarbeit
Wie es begann (95)
Die Ă€rztlichen Außenseiter (101)
Die Impulse der Kunst und der Gymnastik (111)
Die Entdeckung der sensitiven Bewegung (119)
Die reformpÀdagogische Anregung (126)
Von innen kommend (131)
Institutionalisierte Atemtherapie (141)
Das Sprachproblem (149)
Die Begegnung

Die große Rede und das große Schweigen
Auf dem Weg zu Hitler (157)
Im Spannungsfeld des WeltbĂŒrgerkriegs (164)
Geworfensein und Entlastung (172)
1933:Nicht jÀh unterbrochen (181)
Kein Schwarz und Weiß (191

Der negierte Leib
Psychoanalyse und Marxismus (199)
Kulturkritische Vergesellschaftung des transzendentalen Ichs (204)
In der AtmosphÀre der Restauration (211)
Ohne Leib und ohne Gesellschaft (218)
Der Leib im französischen Denken (225)
Zerfall der alten Oppositonen (233)
RĂŒckkehr des Leib-Seele-Problems (239)

 

Buchvorstellung

 

 

 

Vorbemerkung

Vielleicht ist es das letzte Geheimnis, das der Menschheit zum EntrĂ€tseln ĂŒbrig geblieben ist. Die Wissen- schaften geben bislang fast keine Auskunft darĂŒber, was die Spannungsempfindungen bedeuten, die durch die Bewegung, die beim Atmen entsteht, ausgelöst werden. Es bestehen berechtigte Zweifel, ob sich das Wesen des vielschichtigen PhĂ€nomens Atem ĂŒberhaupt einzelwissenschaftlich erfassen lĂ€sst. Den Raum, innerhalb dem es sich als eine transzendente Erfahrung dem Einzelnen offenbart, kann jedoch nur philosophisches Denken kennzeichnen.    

Wissen ĂŒber sich selbst ist das eigentliche Erkennen, das wir auch durch noch so vieles Sachwissen, wissenschaftliche Erkenntnisse und Techniken der MenschenfĂŒhrung nicht erschließen können. Wenn man aber diese konventionellen Bereiche verlĂ€sst  – wie es bei Atemerfahrungen der Fall ist –, um ein unwegsames GelĂ€nde von sich immer wieder aufhebenden Selbstbefragungen, Selbstinterpretationen und Selbsterfahrungen sowie Projektionen, IrrtĂŒmmern und SelbsttĂ€uschungen zu erkunden, so weiß man zu guter Letzt dann doch nicht mehr, ob es das Denken oder das Atmen ist, das Überschreiten heisst.

In meiner AusbildungsstĂ€tte, dem Berliner Institut fĂŒr Atempflege und Atemtherapie von Ilse Middendorf, ehedem Professorin an der Berliner Hochschule fĂŒr Musik und Darstellende Kunst, traf ich einen selbstverstĂ€ndlichen Umgang mit dem Atem an, der sich jeder BegrĂŒndungspflicht enthoben fĂŒhlt. Ilse Middendorf geht sogar in der Darstellung ihrer Lehre vom Erfahrbaren Atem so weit, dass sie diese mit folgendem Satz enden lĂ€sst: „So möchte dieses Buch nicht gelesen, sondern geatmet werden.“ Wegen dieser Sprachlosigkeit, die kein distanziertes Ich zum Leib hochleben lĂ€sst, wird jedoch erst der Atem in seiner Bewegung so belauschbar, dass er paradoxerweise durch das Schweigen sowohl der Vernunft als auch des Verstandes hindurch mitteilsam werden kann – nicht als Innewerden eines geistigen Gehaltes, sondern als pures ErfĂŒlltsein, das der Rede abhold ist.

Wer zunĂ€chst nur neugierig ist und sich Atemerfahrungen aus einem menschenkundlichem Interesse heraus zuwendet, dem wird zugemutet, sich völlig gegenĂŒber Ă€ußeren Erkenntnisinteressen, ja selbst hinsichtlich von Verstehensabsichten zu neutralisieren. Er muss sich auf eine ĂŒbende Weise einlassen, in der das Erleben der Atembewegung als unmittelbare Erfahrung des analytisch nicht zu durchdringenden Ganzen genommen wird. Selbstredend ist mit dieser geforderten Unmittelbarkeit, die nicht mehr bei der einzelnen Handlung und Bewegung wollen darf und sogar verbietet, sich zur einzelnen Verrichtung reflektierend zu verhalten, zunĂ€chst der Raum zugesperrt,  in welchem das PhĂ€nomen Atem bezĂŒglich anderer Elemente des Lebens, der Kultur und der Gesellschaftsgeschichte erörtert werden könnte.

Es gibt also gute GrĂŒnde, weshalb uns die Wissenschaften bislang wenig zum Eigentlichen des Atemthemas mitteilen können. Soll es nicht peinlich werden, kann dazu nur etwas Sinnvolles erzĂ€hlt und sachlich dargestellt werden, was lebensgeschichtlich ausgereift ist. Damit sich ein derart qualifiziertes Individuationsinteresse durchsetzen kann, muss es gelungen sein, die andauernde IntensitĂ€t einer methodisch qualifizierten Atemerfahrung mit inneren Reifeprozessen zu verbinden. Nur wenn das Erleben der Atembewegung existenziell geworden ist, finden die beiden auseinander liegenden Extreme von Erfahrung und Erkenntnis in einem Vorgang zusammen, der nach den Worten von Carl Friedrich von WeizsĂ€cker „in einer langsamen, aber tatsĂ€chlichen Verwandlung der Beschaffenheit des Bewusstseins besteht“.

Meine „anthropologische Frage“ verdankt sich einem zeitgeschichtlichen Kern von Inspirationen, die 1968 aufblĂŒhten, fĂŒr die aber bereits in frĂŒherer Jugend die Saat ausgelegt worden war. Die LektĂŒre von Ernst Bloch und Herbert Marcuse gab erste AnstĂ¶ĂŸe zur Auseinandersetzung mit soziologischen, psycholo- gischen und anthropologischen Fragen, die zusammen mit dem Jahrzehnt politischer AktivitĂ€t einen konsolidierten Reflexionspol bildeten, der ein fruchtbares SpannungsverhĂ€ltnis zu meiner spĂ€teren BeschĂ€f- tigung mit dem Atem zu unterhalten gestattete und von vornherein gebot, diese in einem methodischen Atheismus grĂŒnden zu lassen.

Es sind Extreme in meiner Person, zwischen denen ich die anthropologische Frage im Atemthema auszuspannen versuche. Als ich 1978 begann, mich mit der Atmerei zu beschĂ€ftigen, war das Leibthema noch grĂŒndlich verpönt. Wer damals das Wort Leib in den Mund genommen hĂ€tte, der wĂ€re als Faschist abgestempelt worden oder man hĂ€tte vermutet, er sei Katholik oder gar beides. Die Tatsache, dass mit dem Atemthema Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus gegeben sind, war mir zwar von Anbeginn meiner BeschĂ€ftigung an bewusst und wurde von mir aber bis in die Zeit der Anfertigung dieses Buches hinein zugunsten der Aneignung des Atemstoffes weggeschoben, bis dann schließlich doch nicht mehr außer Acht gelassen werden konnte, dass sich alle Metaphysik, Geistigkeit und Philosophie, selbst die weltflĂŒchtige SpiritualitĂ€t des Yogins auf eine soziale Machtbasis stĂŒtzt und nicht aus sich heraus besteht. Der sozial unempfindliche Konservativismus in der Atem- und LeibpĂ€dagogik baute auch die BrĂŒcken zu Heilserwar- tungen, an deren Horizont der Lebensborn winkte.

GeprĂ€gt durch die damalige Zeit und in der Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und dem Marxismus hatte ich mir lĂ€ngst eine soziale Idee von einer besseren NaturbewĂ€ltigung erarbeitet, die zuließ, sowohl das Atmen praktisch anzunehmen als auch die theoretische Auseinander- setzung in Grundsatzfragen wach zu halten. Beim schließlich unumgĂ€nglich gewordenen genauen Hinsehen auf die Atemgeschichte waren es schließlich nicht mehr nur die großen Worte und ein geweihter Ton, sondern die Ambivalenzen, die auffielen. Denn das Erbe der Atemarbeit wurzelt auch in TraditionsbestĂ€nden der deutschen Kultur, die allerdings keineswegs zufĂ€llig in der konkreten geschichtlichen Situation den Nationalsozialismus zu verpflichten bereit waren. So bleibt es selbst fĂŒr die Atemarbeit  schwierig, BrĂŒcken ĂŒber die Zeit des Hitlerregimes hinweg zu bauen. Denn wie bei so vielem fĂŒhrt der Blick zurĂŒck in die Unsicherheit des radikalen Zweifels, ob nicht das, was im Bereich der Atem- und LeibpĂ€dagogik vor 1933 war, den Nationalsozialismus mit vorbereitet hat.

Die westliche Atempflege ist zwar inzwischen ein eigenstÀndiges und methodisch ausgereiftes Gebiet geworden, was sie in der ersten HÀlfte des vergangenen Jahrhunderts noch nicht war.

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Einheitsstiftende Selbstbewegung

„Wenn Worte aus Atem gemacht sind und der Atem Leben ist, so hab ich kein Leben um auszuatmen, was du mir gesagt“, ließ William Shakespeare Königin Gertrude gegenĂŒber ihrem handlungsgelĂ€hmten Sohn Hamlet feststellen. Dieser intuitive Schluss ĂŒber den Atemgrund des Lebens und der Sprache rĂ€umt einen weiten Spielraum zum Auslegen ein. Indem er vergleicht, hat er zwar wie alles Analogisieren als ersten Erkenntnisschritt etwas unmittelbar Einleuchtendes, aber er lĂ€sst uns auch fragen, wieviel von dem Entsprechenden wörtlich und wieviel nur metaphorisch zu verstehen ist, wenn das Atmen das Leben ĂŒberhaupt symbolisiert.

Gerade weil der Inhalt dieser Klassikerworte nicht durch wissenschaftliche Erkenntnisse zustande gekommen ist, sondern Vorstellungen zusammenzieht, die sich an einer komplex erfahrenen RealitĂ€t reiben, sollten sie besonders beachtet werden. Dichter und Schriftsteller lassen an einem Wahrheitsgehalt teilnehmen, der im kulturellen Fundus wurzelt. In ihm sind unmittelbare Erfahrungen zu einer Idee vom Atem aufbewahrt, ohne Reflexion und Analyse oder die kritische Frage, ob diese Erfahrungen zufĂ€llig oder wesentlich sind. Poetische Bilder vermögen zwar etwas auszusprechen, was ungeeignet ist fĂŒr einzelwissenschaftliche ÜberprĂŒfungen, sie evozieren jedoch philosophische Wahrheiten, die uns anregen können, unsere symbolischen Interpretationen zu hinterfragen.

Die symbolische IdentitĂ€t von Leben, Geist und Atmen in archaischen Lehren und Atemmythen drĂŒckt eine anerkannte SelbstverstĂ€ndlichkeit aus, die nicht mehr hinterfragt zu werden verlangt: Atem erscheint als elementare Stoffwechselfunktion mit dem Leben gegeben, und diese ist so dringend, dass sie nicht unterbrochen werden darf. Hört der Mensch auf zu atmen, erlischt sein Leben. Nachdem das Neugeborene von seiner Mutter abgenabelt wurde, tritt es mit seinem ersten Atemzug als Subjekt aus sich selbst heraus und beginnt selbstĂ€ndig zu existieren.

Mit dem Atem ist zunĂ€chst ein organischer Automatismus gegeben, der von der Geburt bis zum Tode wirksam ist. Er liegt vor aller individuellen Existenz und geht jeder Selbstvergewisserung im reflexiven Denken voran. Doch diese Reduktion auf die Atemfunktion erscheint unzureichend, um dem schillernden PhĂ€nomen Atem gerecht zu werden. Alle Mythologien, von den orientalischen Kosmogonien bis zu den symbolischen Geschichten von Deukalion und Prometheus, wollen nicht nur ĂŒber einen physiologischen Automatismus Auskunft geben, sondern viel mehr aussagen, wenn sie davon erzĂ€hlen, dass der Mensch mit einem Schrei geboren wird, der tönendes Ausatmen ist.

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Unser Objekt des Nachdenkens zeigt die abendlĂ€ndische Tradition nicht allzu direkt und sie geht geradezu von ihm weg, weshalb der berechtigte Zweifel entsteht, ob es in ihr diesen Gegenstand der IdentitĂ€t von Atem, Leben und Geist ĂŒberhaupt gegeben hat und sich in das Wörterbuch doch nur Dinge eingeschlichen haben, die aus dem indischen oder chinesischen Kulturkreis ĂŒberliefert sind. Die diesbezĂŒglichen Zeugnisse der griechischen Überlieferung an der Stelle ihres Ursprungs sind rar und meist im Interesse der spĂ€teren Philosophen vorgestellt. Aber gerade diese konstatierte Leerstelle lĂ€sst die Überzeugung von einer Wichtigkeit unserer Überlegungen anwachsen, weil mit der griechischen Philosophie der Weg des abendlĂ€ndischen Denkens gebahnt wurde, der nicht den enggebundenen Weisungen des Atems wie in der indischen Mystik oder in der taoistischen Naturlehre folgt. Denn das nachhaltige Auftreten der spĂ€teren Pneumatikerschulen ist durch die Vernunftkategorien der platonischen, der aristotelischen und vor allem der stoischen Philosophie geprĂ€gt. Dadurch wurde der Umgang mit dem Atem aller magischen Ursprungsmystik entrissen und in ein versachlichtes DingverhĂ€ltnis der medizinischen Diagnose und Therapie gestellt.

Die inneren Verfassungen und aktiven Lebensweisen einer archaischen BewusstseinssphĂ€re, in welcher der Atem noch als unmittelbar erfahrbares einheitsstiftendes Prinzip fungiert hat, das durch die griechische Philosophie zerbrochen wurde, sind unwiederbringbar vergangen. Sie können mitnichten durch unser wissenschaftliches NaturverstĂ€ndnis rekonstruiert werden, das einer anderen geschichtlichen Ordnungswelt zugehörig ist. Auch direkt können wir uns des Atemgegenstands nicht bemĂ€chtigen. Unversehens wĂŒrden wir aus der Erfahrung in die Selbsterfahrung, aus der Beschreibung in die Selbstinterpretation, aus der Beobachtung in die Selbstbeobachtung und damit in eine Selbstbeeinflussung des Atems geraten, der damit sein Geheimnis wieder nicht preis gĂ€be.

So bleibt zunĂ€chst zu konstatieren: Unser erkenntniskritisches Bewusstsein stĂ¶ĂŸt auf physiologisch gebundene Symbole, deren theo- und kosmogonischen Anfangsbilder ihm paradox und unauflösbar erscheinen. In der Kunst, in der Religion, im Traum und in der Phantasie sprechen sie manche Seele mitunter so an, als wĂ€ren sie noch vorhanden. Vermittelt ĂŒber die BildnĂ€he der Seele kann sich heute noch das Bewusstsein durch das ins magisch-mystische Reich rĂŒckweisende Atemterrain affizieren lassen.

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Indirektes VerhÀltnis zur Eigennatur

Die hebrĂ€ische Schöpfungsgeschichte des alten Testaments spricht davon, dass der göttliche Odem Adam das menschliche Leben spendete, indem er dem leblosen Erdenkloß in die Nase geblasen wurde. . . .

Aus dem archaischen Erleben und dem magischen Verhalten aus innerer Erfahrung geht der (Atem)Mythos hervor, der eine geschichtsbildende Funktion hat und darin gegenĂŒber der ungeheuren Fremdheit der Welt sinngebend war. Erst mit dem Mythos konnte die Ă€ußere Erfahrungswelt als formendes Prinzip zugelassen werden, welches das aus der magischen Intuition hervorgehende Verhalten ablöste, durch das der Schamane den frĂŒhen  Gesellungseinheiten seine spirituellen Unwiderlegbarkeiten aufzwang. Dichter wie beispielsweise Homer oder Plinius sollten dem Volk ihre Götter bringen und damit geschichtliche IdentitĂ€t stiften. Das Poetenwort lĂ€sst schließlich ins Offene treten, was fortan in der Alltagssprache beredet und verhandelt wird. Im Spruch der Philosophendichter sollten schließlich Sitte und Brauch ihre symbolische Deutung erfahren.

FĂŒr die Antike war ein vom Atem-Geist unterschiedener Bewusstseinsbegriff kein philosophisches Problem. Er kam nĂ€mlich noch nicht vor. Ebenso wenig gestellt war die Frage eines transzendentalen Ichs, dessen Erkenntnismöglichkeit von der sinnlichen Erfahrung geschieden ist. Die antike Auseinandersetzung mit dem Mythos beruhte auf anderen geschichtlichen Voraussetzungen. . . .

Und die Seele wird unterschiedlich bezeichnet, je nachdem, ob das Wahrnehmungsorgan, das Willenszentrum oder der Lebensodem, der im Tode ausgehaucht wird, gemeint ist. Indem sich der Mensch im Mythos in verschiedenen Verbindungen  wahrgenommen hat, wurde er seiner eigenen Position inne, er wurde sich gewiss, wo die Götter wirkten und wo er durch eigene AktivitĂ€t etwas verĂ€ndern kann. Er kam zu einem Erfahrungssystem, das sich sowohl erweitert als auch relativiert. WĂ€hrend der Schöpfungsmythos das Entstehen von Ich und Welt zum Inhalt hat, wird im Heldenmythos die DignitĂ€t . . .

In anderen ĂŒberlieferten Kulturen ist auch eine schrittweise VerselbstĂ€ndigung ideeller Bedeutungen gegenĂŒber dem NatĂŒrlichen beziehungsweise eine Trennung des Bewusstseins vom Körperlichen anzutreffen, die als Konstellationen des Indirekten ein charakteristisches Merkmal der menschlichen Lebensentwicklung ist. Es kommt in allen frĂŒhen Kulturen dazu, dass der Atem als Symbol geheiligt und damit SphĂ€renbildner wird, weil er als Inbegriff des Lebendigen weder direkt zu beherrschen noch unmittelbar zu zĂ€hmen ist, aber mittels ihm andere Erlebnis- und BefindlichkeitszustĂ€nde herbei zu fĂŒhren sind. BezĂŒglich des sich dadurch bildenden Geheimnisses der Immanenz und der verfĂŒgbar gewordenen Kardinalsymbolik der Transzendenz wurden in den ĂŒber Jahrtausende hinweg ĂŒberlieferten Traditionen Indiens und Chinas jedoch entgegengesetzte Wege als im antik-jĂŒdisch-christlichen Kulturkreis gegangen.

Im Yoga, in dem der Atem in großer Direktheit als gemeinsamer Motor des körperlichen und geistigen Lebens Indiens erscheint, wurde der VerselbstĂ€ndigungsprozess des kulturellen Symbolik gegenĂŒber der eigenen Leiblichkeit durch die Fesselung der Sinne in der Schwebe gehalten. Das Yin-Yang Emblem, durch das hindurch die Polarisierung von allen Wirklichkeiten erkannt wurde, legte dagegen  eine naturmagische Beeinflussung der eigenen Leiblichkeit nahe: denn im Ch’i-Fluss wird das nichtdingliche Wirken dieser beiden GrundkrĂ€fte entdeckt, die die elementaren Wertkonventionen des Taoismus begrĂŒnden. Wurde in der indischen SpiritualitĂ€t der Atem gegenĂŒber der Welt zunĂ€chst verjenseitigt, so stiftete er im alten China den magischen Resonanzkreis einer Subtilphysiologie, der zur materiellen Grundlage einer profanen LebensbewĂ€ltigung mutieren konnte. 

Der Yoga ist zwar aus dem prĂ€arischen Indien hervorgegangen, aber seine praktische Handhabung des Atems ist ĂŒber die schamanische Ekstase hinausgegangen. Er ist Pflege der absoluten Konzentration und sein Ziel ist die Instase, die spirituelle Erkenntnis. .. .

 . . . Die indische SpiritualitĂ€t wurde schließlich völlig vom Yoga durchdrungen und geriet mit dem Tantrismus wieder an ihren Umschlagspunkt. Dort wurde die körperliche MaterialitĂ€t Gegenstand des Heiligen, so dass jene vedische SphĂ€renauffassung zum Durchbruch kam, nach welcher, wie Helmuth von Glasenapp berichtet,  „der Körper letzthin auch nur verdichteter Geist“ ist.

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Die Schwierigkeit, die esoterischen Topographien des indischen Yoga und des chinesischen Meridiansystems  zu begreifen, gipfelt darin, dass sich beide weder als Ding noch als eine Kausalbeziehung denken lassen und diese ebenso wenig in dichotomischen Kategorien wie Körper und Geist oder Psyche und Physis zu erfassen sind. Mit dem Prana sowie Apana und dem Ch’i sind sphĂ€renbildende Resonanzbeziehungen jenseits der Dialektik von Objekt und Subjekt gegeben: „Hier gibt es ursprĂŒnglich weder ein Innen und Außen, noch ein Vorher oder Nachher, ein Wirkendes oder ein Bewirktes; hier waltet eine VerknĂŒpfung, die nicht aus getrennten Elementen erst zusammengefĂŒgt zu werden braucht, sondern die primĂ€r ein sinnerfĂŒlltes Ganzes ist, das sich selbst interpretiert – das sich in eine Doppelheit von Momenten auseinanderlegt, um sich in ihnen ‘auszulegen“ (Ernst Cassirer)

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Vom Mythos zum Sein und Logos

AufklĂ€rung gab es schon vor dem Christentum, fĂŒr unseren Kulturraum namentlich im antiken Griechenland. Sie markiert ein völliger Scheidungsprozess gegenĂŒber der magischen SakralitĂ€t, in welchem naturkosmogonische und theogonische Gesamtsichten durch analytisches Denken abgelöst wurden. In diesem Übergang, der um 500 vor Christus stattfand und in dessen Folge staatliche Institutionen gestiftet wurden, ĂŒberwand die Philosophie die mythische Leib- und NaturbewĂ€ltigung. Dabei war die AufklĂ€rung der griechischen Antike in charakteristischer Weise ein nachhaltiger Schnitt der philosophischen Abstraktionen in das sinnliche Erleben.

Die Helden der homerischen Ilias waren noch keine eigenstÀndigen Individuen, sondern unterstanden dem Prinzip erregender Götter, die sie leiblich lokalisierbar beeinflussten.

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Die griechischen Philosophieschulen entwickelten rationale Lebensprinzipien als tugendhafte und disziplinierte Kollektivorientierungen, so dass den Göttern zugeschriebene Verantwortung durch eine Kultur der individuellen Entscheidung sowie Verantwortung und Schuld ersetzt werden konnten. Die staatliche Ordnung setzt das Gericht als neue Gerechtigkeitsinstanz gegenĂŒber der göttlich ĂŒberpersonalen Allmacht, löst den aufgebrochenen Konflikt zwischen mutterrechtlicher Tradition und vaterrechtlicher AutoritĂ€t zugunsten der letzteren, setzt individuelle Motive beziehungsweise Privilegien schĂŒtzendes Gesetzesrecht gegen die hergebrachten Stammessitten und macht die Götterfunktionen und rituellen Feste klassenspezifisch. Dionysos gehört nun fortan allein dem Volk.

Die beiden reinsten, vom Mythos abgelösten abendlĂ€ndischen Grundformen der Vernunft finden wir in dem Seinsbegriff Parmenides und dem dialektischen Logos des Heraklit ĂŒberliefert. . . .

Sowohl die Ontologie als auch der Logos widersprachen der magischen Ursprungslogik, die aus dem Allsein hervorgeht. Das Seinsdenken ist darin der Urbeginn der Vernunft, dass es jedes einfache Folgerungsvermögen delegitimiert, das etwa wie beim religösen Yoga oder beim naturmagischen Tao immer nur IdentitĂ€ten der Immanenz sichtet. Das Sein als Negation des Allseins verbietet, in jeder erregenden Erscheinung das eigene Anliegen als göttlichen Wunsch wiederzuerkennen und in jedem Teil widerspruchslos das Ganze anfassen zu wollen. Mit dem Sein war außerdem die selbstĂ€ndige – weil unterscheidungsfĂ€hige – Person geboren.

Neben Homers und Hesiods Überlieferung waren im sechsten Jahrhundert die eschatologischen Mythen, der Seelenkult und die Jenseitshoffnung sowie der Dualismus von Leib und Seele  lebendig, welche den alten Griechen keineswegs fremd gewesen sind und fĂŒr deren EinbĂŒrgerung der Namen des dionysischen Priesters Orpheus steht. . . .

Die alten Griechen hatten ebenfalls ihre HĂ€ndler und Entdecker, die in Austausch mit dem iranischen und indischen Osten, babylonischĂ€gyptischen SĂŒden und italienisch-spanischen Westen getreten waren und sie von den geographischen BeschrĂ€nkungen befreit hatten. Sie kannten die Sprache des Orakels, durch dessen Doppeldeutigkeiten die Götter sprachen, die lange noch selbst nach der Zeit mĂ€chtig waren, als die Vorsokratiker gegenĂŒber den mythischen Geistesordnungen kritisch geworden waren. Nicht nur in Parmenides Traumerlebnis nimmt der zischend-pfeifende Ton als das einzige GerĂ€usch eine Sonderstellung ein. Auch viele magische Berichte um den delphischen Mythos, nach dem Apollon mit der Schlange kĂ€mpft, sprechen dem Zischen der Schlange eine magische Kraft zu.

Ist dieser beurkundete Laut auch Resultat einer AtemĂŒbung, die bezweckt, in einen anderen Bewusstseinszustand einzutreten, der nur noch die Erfahrung des Allseins, aber keine Trennung mehr zulĂ€sst? War Parmenides ein Priester des Apollon?

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Indem sich das Denken vom Mythos ablöste, die Begriffe in ihrem Ausschließlichkeitscharakter dinglich hart wurden und die Sprache fĂŒr die sakrale und die profane SphĂ€re keinen gemeinsamen Oszillationspunkt mehr bildete, vielmehr die Logik der Vernunft sie gar einander entgegensetzte, wurde dem Menschen ermöglicht, sich in den Richtungen der abendlĂ€ndischen Kultur zu entwickeln. Athen, vor deren Toren Plato seine Akademie fĂŒhrte, wurde das Nonplusultra der antiken Welt.. .  . .

„Wie die Seele, die Luft ist, uns beherrschend zusammenhĂ€lt, so umfassen Hauch und Luft die ganze geordnete Welt.“ (Anaximenes von Milet) Auch Heraklit atmete noch die Erkenntnis ein. Und es war der Tempelschlaf, durch welchen der Antike zwei der großartigsten Segnungen beschert wurden, nĂ€mlich das Heilen und die guten Gesetze. Der Einfluss des an die Mysterien gebundenen Priestertums wurde zugunsten der Philosophen und der Ärzte oder besser der PhilosophenĂ€rzte zurĂŒckgedrĂ€ngt. Fortan sollte die frĂŒhe AufklĂ€rung, die aus den Mythen ihren Stoff erhalten hatte, das Inkommensurable wegschneiden und die Menschen in erweiterte ProfanitĂ€ten einpassen, die jene Distanz zur menschlichen Eigennatur erlaubten, die fĂŒr deren technisch-sachliche Behandlung nötig war.

Mit Sokrates und Plato sollte die Rationalisierung einsetzen. Denken und FĂŒhlen, fĂŒr das die alte Pneumalehre noch die Mitte bilden konnte, weil sie den Bereich formulierte, wo diese noch ungetrennt erschienen, konnten nun nur noch einen gemeinsamen Reflexionsbezug finden, indem sie jeweils in sich selbst gegeneinander gebrochen erlebt wurden. Die naturphilosophische Elementenlehre wurde vor allem von den pneumatischen Ärzten der Antike verfeinert und dadurch gegenĂŒber ihrem Ursprung verselbstĂ€ndigt. Dieser bestand in den frĂŒhen Analogien von Makro- und Mikrokosmos, die aus der Einheit des Erlebens stammten, bei dem Objekt und Vorgang der Wahrnehmung noch im magischen Resonanzkreis zusammenfielen.

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Der hippokratische Eid ist die Geburtsstunde einer Medizin, die den Menschen sachlich-rational behandelte, Psychisches und Geistiges ebenso in der Anatomie und Physiologie mitdachte, indem mit ihr  radikal die Trennung gegenĂŒber einem Heilen schamanisch-mystischer Herkunft vollzogen wurde, bei welchem der Heiler selbst den Tod seines vordergrĂŒndigen Lebens erlebt hatte. Heilung entwuchs nicht mehr aus der inneren Gewissheit aus einer anderen Ebene des Seins, in welche der Heiler eingeweiht sein musste. Die hippokratischen PhilosophenĂ€rzte geißelten jene Philosophen, fĂŒr die Heilen erst möglich war, wenn man entdeckt hatte, was der Mensch jenseits der Welt seiner eingelebten Sinne sowie emotionalen und kognitiven BewusstseinszustĂ€nde eigentlich ist und die wegen ihrer magisch-mystischen Praktiken auf die historisch verfĂŒgbaren mythischen Denkmittel zurĂŒckgriffen.

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Anschauliche Natur- und Menschenkunde

Die Beredsamkeit des Leibes wurde im achtzehnten Jahrhundert, dem Jahrhundert der AufklĂ€rung und Romantik, noch als Ă€ußerliche Körperschulung in der Rhetorik mit der Lehre vom Vortrag entdeckt. Dabei wurde die mustergĂŒltig formulierte Actiolehre von Cicero und Quintilian – dem Letzteren verdankt die Antike das umfassende Lehrbuch zur Rhetorik – in dem Interesse wieder aufgenommen, den Körper zu psychologisieren. Eine weitere Tradition der Menschenkunde, die zur modernen Erkenntnis der menschlichen Eigennatur aufrĂŒckte, finden wir bei den spanischen Denkern der Renaissance. Deren höfische Verstellungskunst wird im beginnenden bĂŒrgerlichen Zeitalter unterminiert und in eine Lehre von der Menschenkenntnis umgewandelt.

Die neuzeitliche Programmatik eines leiblichen Denkens, das die Anschauung einklagt, weil sich das Innere in einer Bewegung ausdrĂŒckt, hat wohl in Heinrich von Kleists Novelle „Das Marionettentheater“  seine unĂŒbertroffene literarische Formulierung erhalten.

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Wir haben hierfĂŒr zwischen Körper und Leib fundamental zu unterscheiden, obgleich sie keine zweierlei Materialien darstellen und damit eine Einheit bilden. Der Körperbegriff folgt physikalisch-chemischen Gesetzen, unterliegt deren objektiven Maßeinheiten und wird durch physiologische Zweckhaftigkeit bestimmt. Der Begriff Leib dagegen bezieht sich mitnichten auf GegenstĂ€ndliches. Mit ihm soll Sinnhaftes bezeichnet werden, das erlebt werden kann und personenbezogen ist. Der Leib definiert sich geradezu durch das Anschauliche, denn bei ihm interessiert nicht das physiologisch-anatomisch Zweckhafte, sondern das Aussehen, weil der Leib nicht nur InnenrealitĂ€t ist, sondern eine Beziehung, die ins Offene bringt und an der deshalb das Außen arbeitet. Der Leib wird nach dem FrĂŒhromantiker Novalis deshalb immer dort zum Sitz der Seele, wo das Innen und das Außen einander berĂŒhren und sich gegenseitig durchdringen.

In Kleists „Marionettentheater“ finden wir den vorwĂ€rtsweisenden Ideengehalt einer Leibphilosophie, die in spĂ€teren Formulierungen als IntentionalitĂ€t – dem gerichteten Gespanntsein –, ExpositionalitĂ€t – dem sinnlichen Über-sich-hinausleben –  und der AmbiguitĂ€t – dem Auseinanderfallen von Innen und Außen – auftritt. . . .

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Entscheidend gefördert wird die Wissenschaft von der eloquentia corporis jedoch durch die im achtzehnten Jahrhundert sich entfaltende Anthropologie, in der sich Philosophie und Medizin verbinden. Es waren vor allem philosophisch gebildete Ärzte (Magnus Hundt, Otto Casmann, Gottfried Polycarp MĂŒller, Karl Wilhelm Friedrich Struve und Ernst Platner), die diese Disziplin vorantrieben, um das Individuelle geltend zu machen. Mit ihrer Lehre vom Einfluss des Körpers auf die Seele lieferten sie die Grundlage fĂŒr die Physiognomie. In Frankreich und England dagegen wurde die Reflexion des Einzelnen ĂŒber sich selbst, seine Lebenserfahrung und seine menschlich exemplarischen ZĂŒge vor allem durch den Essay eingefĂŒhrt, der zunĂ€chst das Genre des Moralisten war. Zuerst in England und etwas spĂ€ter in Frankreich leistete die Schauspielkunst einen weiteren Beitrag zur Anthropologie, die nach Schillers Worten „ein unfehlbarer SchlĂŒssel zu den geheimsten ZugĂ€ngen der menschlichen Seele“ sein sollte.

Die naturphilosophische Schule der Romantik war vornehmlich eine von Ärzten gefĂŒhrte Gegenbewegung zur Klassik in der Literatur und der Philosophie. In der romantischen Geisteshaltung begrĂŒndeten sich alle Naturheilverfahren. Franz Messmer, Christoph Hufeland, Friedrich Schelling, Johann Wilhelm Ritter, Franz Bader und der konsequenteste Interpret der romantischen Denkweise in der Medizin, Carl Gustav Carus, waren durch ihre Ă€rztliche TĂ€tigkeit motiviert, den Organismus in seiner Leib-Geist-Einheit  aufzufassen.

Auch wenn die Natur wohlwollend alle nötigen Heilmittel bereithielt und sie eine allwissende Ärztin war, so konnte deren Wissen dem Kranken nur dann zunutze gemacht werden, wenn man dessen leibliche Verfassung kannte, die eine Resonanzantwort geben sollte, damit das Heilungsgeschehen in Gang kommen konnte. Insofern praktizierte man eine magische Geselligkeit, wobei die ganze Verwandschaft um das Krankenbett versammelt war, Kommentare gab und so in die Ă€rztliche Praxis, nicht nur in die Diagnostik, sondern auch in die Therapie mit eingeschlossen war. Dies war noch das Hineintauchen in eine Gesamtsituation, deren unmittelbare Wahrnehmung womöglich Wichtigeres mitteilte, als die objektiven Daten ĂŒber die Krankheit.

Aus der romantischen Geisteshaltung ging auch die Menschenkunde hervor, die in der klassischen Homöopathie Samuel Hahnemanns ihre Formulierung fand. Dessen Arzneimittellehre orientierte sich bekanntlich nicht an einem Bild von der Krankheit, sondern an jenem persönlich zuordenbaren Stoff, der Konstitutionsmittel genannt wird. Diesem sind BefindlichkeitszustĂ€nde zugeordnet, die durch den Konstitutionsstoff hervorgerufen werden, wenn er dem menschlichen Organismus zugefĂŒhrt wird. Im alchimistischen Zugriff werden die individuellen Erlebens- und Verhaltensmodi eines Patienten durch die Folie des Konstitutionsmittels hindurch beispielsweise als Sulfur-, Sepia- oder AurumzustĂ€nde erkannt.

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WĂ€hrend der achtundvierziger  Revolution forderten die entscheidenden Köpfe der Ärzteschaft eine wissenschaftliche Neuausrichtung der Medizin und der Ausbildung sowie eine Verbesserung des öffentlichen Gesundheitswesens. Vor allem Rudolf Virchow, BarrikadenkĂ€mpfer in dieser gescheiterten Revolution, wollte die Ärzte zu AnwĂ€lten der Armen machen, denn die Ursache vieler Krankheiten war offensichtlich in sozialen und den damit verbundenen hygienischen UmstĂ€nden begrĂŒndet. In der bismarckschen Gesetzgebung fĂŒr ein öffentliches Kassenwesen wurden schließlich die ökonomischen Ressourcen mobilisiert, die das fortschrittlichste medizinische Versorgungssystem zu etablieren erlaubten, universitĂ€re Forschungen abstĂŒtzten, einer qualifizierten Schicht von Ärzten Ansehen und Einkommen verschafften und die Hoffnung entstehen ließen, die Krankheiten bezwingen zu können.

Keineswegs zufĂ€llig sind zwei moderne Strebungen, jene nach Wohlstand und jene nach Gesundheit, miteinander verbunden. Bereits die Französische Revolution kannte deren symbolischen Überlappungen. Metaphorisch wurde die Revolution als die Radikalkur fĂŒr den erkrankten Staatskörper aufgefaßt. Der Armenarzt Jean-Paul Marat stand ebenso an der Spitze der Revolution wie Doktor Guillotin, der Erfinder des Fallbeils. Die Revolution erkĂ€mpfte dem BĂŒrger nicht nur politische Rechte, sondern weckte in ihm auch erstmals den Anspruch auf Gesundheit, die nicht mehr nur eine Gnade ĂŒberirdischer MĂ€chte bleiben sollte. Befreiung aus politischer Ohnmacht und Befreiung von Krankheit, also Heilung, gingen Hand in Hand und sollten nochmals in den Auseinandersetzungen des zwanzigsten Jahrhunderts auf den PrĂŒfstand gestellt werden.

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Die Abtreibung des Unmitelbaren

Die klassische Philosophie mit dem Dreigestirn Immanuel Kant, Gottfried Fichte und Georg Hegel hat alle anthropologische Unmittelbarkeit in der Naturbetrachtung verworfen. Der deutsche Idealismus stellte die fĂŒr die Moderne geltende und im vergangenen Jahrhundert politisch virulent gewordene Zentralfrage, wie die VitalbedĂŒrfnisse in die sozialen Bande einzuknĂŒpfen waren, um sie freizusetzen, zu entwickeln und letzthin durch das Politische hindurch als Eigentumsordnung zu formen. Am deutschen Idealismus interessiert seine durch die Erkenntnistheorie hindurch formulierte Theorie der sozialen Motivation, die nicht mehr hinter die Gardinen schauen wollte, wie noch die Romantik oder der Sturm und Drang. Die Philosophie des Deutschen Idealismus wurde unter dem Ein- druck der Französischen Revolution sowie der napoleanischen Zerstörung des preußi- schen Staates und im SpannungsverhĂ€ltnis zu den deutschen ZustĂ€nden ausformuliert, die durch das StĂ€nde- und Zunftwesen sowie eine kommunale und feudale, Staat und Gesell- schaft verschrĂ€nkende Ökonomie geprĂ€gt waren.

Fichte kannte keine strikte Unterscheidung zwischen privaten BedĂŒrfnissen und gesamt- gesellschaftlichen Normen sowie Gesetzen. Trieb, Erkenntnis und Handeln sollten in einer versittlichten Ökonomie als „SelbsttĂ€tigkeit“ und „Gemeinschaft“ vereinigt bleiben. . . .

Aufgrund des Ausgangs von seiner Zwei-Reiche-Lehre stehen bei Kant auch privates und öffentliches Motiv, Bewusstsein und Verhalten strikt voneinander getrennt gegenĂŒber. Die Antinomie von transzendentaler und praktischer Vernunft, muss durch eine moralisch-religiöse Selbstmotivierung des bĂŒrgerlichen Individuums ĂŒberbrĂŒckt werden. Kant postuliert ein abstraktes, sich selbst genĂŒgendes Ich, das gewendet gegen die inneren Leidenschaften der menschlichen Eigennatur dem moralischen Diktum unterliegt.  . . . 

Hegel kritisierte sowohl Fichtes LetztbegrĂŒndung des Selbstbewusstseins als auch Kants ĂŒberempirisches „Ich denke“. Die Moral als subjektives Wollen und guter Wille findet das kategorische Recht und allgemeine Gesetz ohne dialektischen Prozess, den Hegel nun einklagt. Ihm erscheint die Wirklichkeit deshalb gewalttĂ€tig, weil sie unter dem Nichtvorhandensein der Sittlichkeit leidet. Der sittliche Geist in der Einheit von Staat und Familie ist ihm deshalb ein System sozialer Gewalt.

Kants wenig kundige Anthropologie entsprach der vernunftkritischen BegrĂŒndung der Transzendentalphilosophie, die sich nicht mehr mit den GegenstĂ€nden selbst beschĂ€ftigen wollte, sondern nur mit den Möglichkeiten ihrer Erkenntnis, der „Erkenntnisart von GegenstĂ€nden, so fern diese a priori möglich sein soll“.

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Hegel setzte die Idee des Absoluten und an ihr anschließend die Geschichtsphilosophie in ihr Recht, die von Karl Marx in die politische Klassenkampftheorie ĂŒberfĂŒhrt wurde, wobei dieser von Fichtes identitĂ€tsphilosophischer BegrĂŒndung des Sozialismus abrĂŒckte. Mit Hegel konnte der Marxismus fortan durch Engels ausformuliert die Freiheit mit der Erkenntnis von Naturgesetzen identifizieren – als Einsicht in die Notwendigkeit: . . .

Die identifikatorische EngfĂŒhrung, bei der Freiheit nicht ohne Gesetzesbezug sein kann, musste spĂ€testens dann Widerspruch hervorrufen, wenn dafĂŒr, was innerhalb der menschlichen Eigennatur denn gesetzlich sei, nur naturwissenschaftliche KausalitĂ€ten in Betracht gezogen werden. Aber wie können „die bestĂ€ndigen Gesetze“, um die es Kant ging, denn anders als naturwissenschaftlich qualifiziert werden? In diesem Punkt setzen die eigentlichen Scheidungen ein. Sowohl gegen die klassische Philosophie als auch gegen den Marxismus sollte die nachhegelianische und nachmarxistische Philosophie Widerspruch einlegen, um das von neuem aufzusuchen, was keine Erkenntnistheorie mehr leisten, die Romantik sich noch vorstellen und fortan nur noch das Leben selbst hergeben konnte: Unmittelbarkeit und Dialog.

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Die Thematisierung der VitalbedĂŒrfnisse

FĂŒr den materialistischen Religionsphilosophen Ludwig Feuerbach konnte der „sinnliche Leib“ gerade deshalb „vernĂŒnftige Schranke“ gegen das religiöse Selbstbewusstsein werden, weil er das alttestamentliche Bilderverbot ernst nimmt und „nichts anderes als das“ findet, was dem Menschen schon immer gehörte. AufgeklĂ€rt nahm er dem Leben den religiösen Heiligenschein und entmythologisierte die Religion. So schaute er auf den der Moderne angemessenen und vom Protestantismus mitgeschaffenen Raum fĂŒr eine sich selbst erweiternde profane SphĂ€re, die mit dem allgemeinen Verkehr der bĂŒrgerlichen Gesellschaft und ihrem Abstraktionsprozess der sozialen Medien einsetzte.

Karl Marx als Kritiker Feuerbachs sah sich keineswegs veranlasst, diesem gesellschaftlichen Rationalisierungsprozess zu widersprechen, gegen den der Religionsphilosoph den  Leib  in Stellung gebracht hat. Mit der sechsten Feuerbachthese wehrt sich Marx jedoch mit aller Vehemenz dagegen, das menschliche Wesen als einen natĂŒrlichen Gattungsbegriff zu fassen, und verlangt, das einzelne Individuum als „das ensemble der gesellschaftlichen VerhĂ€ltnisse“ zu begreifen. Feuerbachs Materialismus kam nur zu einer passiven Sinnlichkeit der Anschauung, die im Jenseits der praktischen TĂ€tigkeit lag. Was der Mensch nach Feuerbach in seinem Innern als Mangel erlitt, kam nach Marx von außen. Feuerbachs „abstraktes Individuum“ war einer historischen Gesellschaftsform geschuldet, von welcher der frĂŒhe  Marx wusste, dass sie in einer bestimmten Weise deren gesellschaftlichen Grundkonflikte im Menschen einlagerte. FĂŒr Marx noch gab es keine Praxis und damit keine RationalitĂ€t, die ungebrochen durch das Gesellschaftliche in organischen VollzĂŒgen hĂ€tte grĂŒnden können.

Die als Eigentum juristisch gesicherte Trennung von Arbeit und Kapital sollte sich, wie Karl Marx in den „Pariser Manuskripten“ (1844) formuliert hatte, deshalb im Menschen als gesellschaftlich hervorgerufener „Naturzwang“ durchsetzen, weil der Arbeiter im Unterschied zum Sklaven oder Leibeigenen gezwungen war, sich gegen Lohn zu verdingen, um seine Subsistenz zu sichern. Das bĂŒrgerliche Eigentum rief spezifische AktivitĂ€tsmatrizen hervor, die Marx als abgezwungene Arbeit des Proletariers und als SelbsttĂ€tigkeit des BĂŒrgers identifizierte. Alles, was das Individuum ausmacht, ist – darin folgte er methodisch Hegel – durch die gesellschaftlichen Zwangsgesetze des privaten Eigentums beziehungsweise die gesellschaftliche TotalitĂ€t der Teilung der Arbeit, der Produktion, Distribution und Konsumtion vermittelt.

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Marx und Engels stellten die ideellen Wertsetzungsprozesse in der Kritik des deutschen Idealismus infrage. Namentlich Fichtes „SelbsttĂ€tigkeit“ und „Gemeinschaft“ verfielen als sozialpsychische Konstituenzien des bĂŒrgerlichen Eigentums der Ideologiekritik. Durch diese legten sie die Grundelemente jeder Weltanschauung in aller Deutlichkeit frei. . . .

Gegen Feuerbachs passive Sinnlichkeit sowie die „SelbsttĂ€tigkeit“ und „Gemeinschaft“  setzte Marx den sozialen Aktivismus der SelbstbetĂ€tigung der sich assoziierenden Proletarier. Er  widersprach damit der Generalisierung des bĂŒrgerlichen Subjekts durch die philosophische Klassik, indem er in der „Deutschen Ideologie“ zusammen mit Friedrich Engels dessen geheimstes Refugium im Eigentum, die durch das Recht garantierte Freiheit als „Zwang“ kritisierte. Alle Gewalt – so die ideologiekritische Einsicht von Marx und Engels – haust im Herzen des Rechts, weshalb der Staat durch den Proletarier zu stĂŒrzen sei. 

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Uns interessiert hier des Weiteren die kompensatorische ZwiespĂ€ltigkeit, mit der jeder religionsphilosophische Ausgang nur auf den Leib rĂŒckgreifen kann. Der junge Marx hat Feuerbach nicht nur wegen dessen passiver Einseitigkeit, sondern auch deshalb verworfen, weil er in ihm die RĂŒckseite einer „ideologischen Gemeinschaftlichkeit“ entdeckte, die der deutsche Idealismus forciert hatte. Will man die Stoßrichtung seiner Kritik verstehen, so ist ebenso zu beachten, dass der junge Marx der Heiligen Familie noch ein eigenstĂ€ndig Aktives im Naturinneren bestĂ€tigte, den mechanischen oder materialistischen Materialismus eines Hobbes als „menschenfeindlich“ bezeichnete und in durchaus vitalistischem Bezug auf  den mystischen Denker Jakob Böhme die Bewegung „als Trieb, Lebensgeist, Spannkraft, als Qual“ der Materie, aber mitnichten die menschliche Natur als mangelhaft begriffen haben wollte. Diesem Motiv ist die Philosophie von Ernst Bloch verpflichtet.

Bei Feuerbach entstand nĂ€mlich Neues. Dieser wollte gar nicht – wie noch Schopenhauer – eine SubjektivitĂ€t gegen eine ObjektivitĂ€t geltend machen, wodurch letzten Endes eine Neigung entsteht, das Verfallensein an das selbstanklagende Leiden zu pflegen. Vielmehr suchte Feuerbach  im Leib eine vorgesellschaftliche Schicht zwischenmenschlicher Beziehungen, deren eigentĂŒmliche Schlagseite gerade deshalb von Marx so kritisch gesehen werden musste, weil dessen Religionsphilosophie nicht mehr die klassische Subjekt-Objekt-Dialektik wie etwa noch die frĂŒhbĂŒrgerlichen Denker des ungesellschaftlich aufgefassten GefĂŒhls, Pestalozzi, Montesquieu oder Herder, aufbauen, sondern diese geradezu zerschlagen wollte, indem sie sich zu einer passiven Selbstschau hinneigte. 

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Feuerbach wollte keinen Geist als Zusammenhang und verlangt eine Unmittelbarkeit zum anderen. Doch bleibt diese monologisch, wenn der andere in der feuerbachschen Dialogabsicht doch nur als Objekt und nicht als wirklich „Angeredeter“ (Wilhelm von Humboldt) vorkommt. Feuerbach kennt noch keine zweite Person und somit auch kein Du, mithin – was der Fluchtpunkt unserer Überlegungen sein soll – keine zwischenleiblich konstituierte SphĂ€re, die eine Person in besondere Resonanzbeziehungen mit dem anderen stellt. Sie aber ist der eigentliche Grund der Verbindung als menschliche Konstitutionsbedingung.

Feuerbach stĂ¶ĂŸt von materialistischen PrĂ€missen aus auf den uns interessierenden Grundsatzkonflikt, der seit der Zeit schwelt, als Pestalozzi erstmals den Scheitelpunkt frĂŒhbĂŒrgerlicher Ideologie erreichte, auf welchem das VerhĂ€ltnis von Natur und Gesellschaft geschichtlich neu zu bestimmen war, nachdem der Mensch der Neuzeit aus den kollektiven Traditionen herauszutreten begann.

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Die eigentliche anthropologische Frage

Nach  dem Erscheinen von „Sein und Zeit“ schienen zunĂ€chst alle Schwierigkeiten auflösbar, welche in den Wissenschaften vom Menschen aufgrund der methodischen Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften bestanden. Heideggers scientismuskritische Existenzanalytik erklĂ€rt das Denken nach Descartes zum SĂŒndenfall, denn er ist der Überzeugung, das bewusste Ich sei nicht der letzte ErklĂ€rungsgrund allen Seins. Der Existenzbegriff erhielt an Stelle des radikal aufgegebenen egologischen Ansatzes eine anhaltende SchlĂŒsselstellung in der philosophischen Diskussion.

Heideggers Daseinsanalyse wurde eine empirische Forschungsmethode, die der Medizin fĂŒr bislang verdeckte Fragestellungen Impulse der Erörterung gab, die sich einer tiefenpsychologischen Analyse lediglich als psychisches TrĂŒmmerfeld darstellten. In der Daseinsanalyse sollte die menschliche Grundverfassung im Sinne Heideggers entdeckt werden. Sie hat eine fruchtbare Grundlegung in der Psychologie, auch der Psychosomatik und vor allem der Psychiatrie ermöglicht. Ludwig Binswanger gab mit seinem spĂ€ten Hauptwerk „Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins“ den Startschuss. Der Heidelberger Psychosomatiker Herbert PlĂŒgge stand der Tradition der psychosomatischen Medizin der Daseinsanalyse ebenso nahe wie die Psychiater Frh. v. Gebbsattel und Erwin Strauss.

In der anthropologischen Medizin war man von vornherein der Überzeugung, dass es nicht allein genĂŒgen könne, das Manko der naturwissenschaftlichen ObjektivitĂ€t, dass die Erkenntnis des spezifisch Menschlichen prinzipiell ausgeschlossen ist, durch die Psychologie oder die Psychoanalyse aufheben zu können. Biologische VorgĂ€nge sind als „Leistungen“ einer sinnvollen Einheit von Bedeutungen darzustellen, die sich leiblich durch eine Beziehung zur umgebenden Welt ausbilden.

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Hellsichtig erkennt einer der profiliertesten Denker, der einer anthropologischen Physiologie verpflichtet ist, Frederik Buytendijk, eine wesentliche „Bedeutung der sensiblen EindrĂŒcke“ beziehungsweise „Spannungsempfindungen“, „die beim Atmen selbst entstehen“. Der niederlĂ€ndische Biologe und Psychologe orientiert sich in seiner „Prologemena einer anthropologischen Physiologie“ an Heideggers Existenzanalyse und gibt dessen Ausgangskategorie des „In-der-Welt-seins“ jedoch ebenso wie Ludwig Binswanger eine menschenkundliche Bedeutung, die nunmehr aber in der Funktionsweise physiologischer Mechanismen, ZustĂ€nde und Regulationen konkret einzuholen ist.

Buytendijk begreift die Atembewegung in ihrer RegularitĂ€t deshalb nicht als Substanz, sondern als einen leiblichen Vorgang, der pathisch abgestimmt ist. DemgemĂ€ĂŸ werden die durch die Atembewegung ausgelösten Spannungsempfindungen maßgeblich, soweit sie „in gegenseitiger Relation zum persönlichen Dasein stehen“. Buytendijk verknĂŒpft den Atem mit dem Verhalten gegenĂŒber der umgebenden Welt und verlangt, ihn aus einem spezifisch menschlichen BedeutungsgefĂŒge heraus zu begreifen, in dem sich der Mensch befindet. Schließlich verortet er gar in diesem Sachverhalt „die eigentliche anthropologische Frage“, auf die „es wissenschaftlich (fast) keine Antwort gibt“.

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Wie es begann

Nachdem man im achtzehnten Jahrhundert den Sauerstoffgehalt der Luft entdeckt hatte und damit die Verbrennungslehre auf eine neue Basis stellte, wurde das Atmen als StoffwechseltĂ€tigkeit interessant. Diese folgenreiche naturwissenschaftliche Entdeckung erlaubte zusammen mit einer anderen, nĂ€mlich der der PolaritĂ€t der ElektrizitĂ€t, den Widerstreit von NaturkrĂ€ften als ein Grundgesetz der Natur ĂŒberhaupt zu begreifen. Damit war das Pulver fĂŒr weitere kulturelle InitialzĂŒndungen bereitgestellt.

ZunĂ€chst fĂ€llt in diese Zeit die systematische Entwicklung einer TurnpĂ€dagogik. Dies geschah vor allem aus dem BedĂŒrfnis, den napoleonischen Armeen tĂŒchtige Soldaten entgegenzusetzen. Athletische Bildungsprogramme wurden entworfen. Der Turnvater Jahn lieh manchem eine militaristische Tradition begrĂŒndenden Sportverein seinen Namen. Johann Heinrich Pestalozzi entwarf im Interesse der Erziehung zur Selbstentfaltung seine „Elementargymnastik“, die einhundert Jahre spĂ€ter die Gymnastikbewegung anregte, welche neben die Turn- und die aus England importierte Spielebewegung trat. Auch die Philanthropen Christian Gotthilf Salzmann und Johann Christoph Friedrich GuthsMuths beschĂ€ftigten sich mit der geistigen Wirkung körperlicher ErtĂŒchtigungsversuche, bei denen sich die damalige bĂŒrgerliche Bildung auf die Antike berief. Mit der klassischen Kunst waren die Ideale der Schönheit und des athletisch gestĂ€rkten MĂ€nnerkörpers ĂŒberliefert worden – und nicht nur PĂ€dophilie und PĂ€derastie gefördert, sondern auch eine militaristische Tradition der Atemgymnastik eingeleitet worden. FĂŒr diese steht  im zwanzigsten Jahrhundert der Name Hans SurĂ©n, Leiter der Heeresschule fĂŒr LeibesĂŒbungen.

Im neunzehnten Jahrhundert wurde außerdem von Ă€rztlicher Seite zur Heilung von Tuberkulose und Linderung von Deformationen durch Mangel- und FehlernĂ€hrung Atemgymnastik propagiert. Medizinische Atemkuren und (Atem)Gymnastiken wurden verordnet. Außerdem wurden die ersten Atemapparaturen gebaut. Die medizinischen Erfahrungen ließen fragen, ob Atemtherapie fĂŒr andere akute Erkrankungen eingesetzt werden könne. Diesem medizinischen BedĂŒrfnis kam zunĂ€chst der Odismus des Karl von Reichenbach entgegen, das ein Ă€rztliches Außenseiterverfahren bleiben sollte. . . .

Seit der ReichsgrĂŒndung gesellte sich zur Lebensreformbewegung mit ihrem naturheilkundlichen Anhang die Bodenreform-, die Gartenstadt-, die SchrebergĂ€rten- und die Freikörperkultur-Bewegung, in der die romantischen Motive mustergĂŒltig umgesetzt wurden. Schließlich förderte die bĂŒrgerliche Jugendbewegung, die sich seit der Jahrhundertwende in den JugendbĂŒnden, den Freischaren und dem Wandervogel organisierte, das aufkeimende Interesse am bewussten Körpererleben, an sensitiven Bewegungsweisen und am Ausdruckstanz sowie an rhythmischer Gymnastik und an Atemerfahrungen.  Dieses lebte vor allem von der Emphase der Entdeckung des NatĂŒrlichen. .

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Alle, die sich mit dem Atem beschĂ€ftigten, mussten sich gegen die vom Lebendigen und von der unmittelbaren Anschauung abgeschliffenen Körperbilder in der Physiologie und Medizin sowie gegen die technische Körperbeherrschung in der Gymnastik behaupten. Man kann sich deren Ausgangsstellung bei der heutigen AufgeklĂ€rtheit und FreizĂŒgigkeit, der Entzauberung fast aller menschlichen Geheimnisse, wenn ĂŒberhaupt, nur schwer vorstellen. Damals wurde die Gymnastik noch durchs Korsett eingeschnĂŒrt betrieben. Leibfeindliche Konventionen, enge Moralvorstellungen und unwissende Körperselbstbilder bildeten starre Hindernisse, welche die ersten Frauen und MĂ€nner ĂŒberwinden mussten, die praktisch ihren Atem und Leib auszukundschaften begannen. Nicht nur dagegen wehrte sich die Reformbewegung in der Gymnastik, aus der viele Atem- und LeibpĂ€dagoginnen hervorgingen.

Nahezu völlig vergessen ist, dass spĂ€tere Ideen der ReformpĂ€dagogik auch aus den sensomotorischen Entdeckungen der Atemfrauen gespeist wurden, die den Zug einer „PĂ€dagogik vom Kinde aus“ und die Tendenzen zur Individualisierung des Schullebens stĂŒtzten. Dies wundert insofern nicht, als die ReformpĂ€dagogik einen starken deutschen Ertrag hatte, der direkt mit der Kulturkritik des 19. Jahrhunderts eingebracht wurde, der aber auch aufgrund eines Grundkapitals möglich war, das aus dem Zusammenspiel von AufklĂ€rung, Sturm und Drang, Klassik und Romantik, der sogenannten Deutschen Bewegung, seine Zinsen abwarf. Die ReformpĂ€dagogik war zunĂ€chst eine Kunsterziehung- und Landschulheimbewegung, wurde auch an die normalen Schulen adressiert, forderte schließlich die Arbeitsschule, die Frauen- und Volksbildung in der Erwachsenenbildung sowie den Ausbau sozialpĂ€dagogischer Einrichtungen. Sie war zugleich eine internationale Bewegung, die das Schulwesen umgestalten wollte, um die Chancengleichheit zu verwirklichen und der Begabungsdifferenzierung gerecht zu werden. In der ReformpĂ€dagogik zeigte sich der Widerstand gegen Zurichtungen der Kinder durch ignorante Eltern, unfĂ€hige und beschrĂ€nkte Erzieher und Lehrer, eiserne Institutionen sowie die Kinderarbeit.

In ihrem gymnastischen Ausdruck geht unter, dass die atem- und leibpĂ€dagogischen Praktiken auf die kulturrevolutionĂ€re Freisetzung der unverwechselbaren KrĂ€fte des Individuums abzielten, indem nach anfĂ€nglichem Tasten und Ausprobieren bewusstseinsaktive Methoden entwickelt wurden, die das leibliche Zwischenfeld ausdifferenzierten, das zwischen der zweckhaften KörpertĂ€tigkeit und dem Bewusstsein liegt, von der Romantik erstmals in der Neuzeit als Untersuchungsprogramm proklamiert und in der IntentionalitĂ€tsthematik der Philosophie begrifflich eingeholt wurde. Wie nichts anderes zielte die Erfahrung von Atemempfindungen auf ein integratives Zentrum gegenĂŒber den auseinandertreibenden GrundgefĂŒhlen in der Legitimationskrise des zwanzigsten Jahrhunderts, die sich im Verlust jeglicher Gewissheit, im Zweifel an der Beschaffenheit von Ich und Welt sowie in der wachsenden Skepsis gegenĂŒber den Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache manifestierten.

Bevor das Atmen ĂŒber die Reformgymnastik in das Gesundheitssystem eintreten sollte, war es ĂŒber die Ă€rztliche Massage Grundlage eines naturheilkundlichen VerstĂ€ndnisses geworden. Mehr als man es sich heute, wo fĂŒr jede Funktionsstörung und nahezu fĂŒr jede Krankheit ein Medikament vorhanden ist, noch vorstellen kann, suchte man die von der Natur bereitgestellten Heilmöglichkeiten auf. 1921 war Ludwig Hofbauers grundlegendes medizinisches Werk „Atmungspathologie und –therapie“ erschienen, das eine selbstĂ€ndige Atemarbeit befĂŒrwortete. Fritz Mohr hatte in seinem 1925 veröffentlichten Buch „Psychophysische Behandlungsmethoden“ die Atemanregung in den Mittelpunkt gestellt.

In der Weimarer Zeit war der Atem als ein eigenstĂ€ndiges PhĂ€nomen erkannt, das nicht mehr einfach der aufstrebenden naturwissenschaftlichen Medizin zuzuordnen war, die grĂŒndlich dabei war, das Subjekt aus der Geschichte des Kranken zu verdrĂ€ngen. Atemmassagen, Stimm- und AtemĂŒbungen waren auch als Grenzgebiet der Psychotherapie anerkannt, wenngleich man nicht allgemein den weitgesteckten Inspirationen der Atem- und LeibpĂ€dagogik folgte. Diese thematisierte die Personenbezogenheit des Leibes im Gegensatz zur Körpermechanik des neunzehnten Jahrhunderts. Deren Mangel war es, keine Innerlichkeit, weder Befindlichkeit noch GefĂŒhl, zu berĂŒcksichtigen. Man entdeckte eine eigene RealitĂ€t des Subjektes, dessen Erscheinungsweisen man nicht auf die ObjektivitĂ€t einer zweckhaften Körperbewegung zurĂŒckzufĂŒhren vermochte. Stattdessen wollte man den Menschen in seinem Leibe bewusst ankommen lassen, weil man im Leib IntegrationskrĂ€fte entdeckte, aus denen die Seele hervorgeht und das Mentale seinen RĂŒckhalt hat.

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Das Individuum mit seinen unverwechselbaren, ihm eigenen KrÀften wurde in seiner leiblichen Grundlage entdeckt. . . .

Ganz gleich, in welchen ideellen Kleidern sie zu dieser Zeit spazieren gingen: Alle suchten Wege fĂŒr die Anleitung, Bewusstmachung und Gestaltung eines Vorgangs, der von den personalen Erfordernissen des SchĂŒlers bestimmt sein konnte. Ausdruckstanz, Reformgymnastik, ReformpĂ€dagogik und Atemschulung entwickelten jede auf ihre Art in der sensitiven Selbstwahrnehmung die Frage nach den inneren Potenzialen der menschlichen Reifung, den Mut zur eigenen Entscheidung, den Sinn fĂŒr die Unterschiede und die QualitĂ€t in der Einzigartigkeit eines jeden Individuums. Diesen Prinzipien war die Personalisierung der sozialen Verbindung zur Seite gestellt, die auf die partnerschaftliche Teilhabe setzt.

Sicher war das Begehen dieses Weges deshalb heikel, weil er damals noch unbekannte Abwege bereithielt, die auch allzu oft im Bereich der dargestellten Grazie des aufblĂŒhenden Ausdruckstanzes und mit dem inszenierten Gestus der Weiblichkeit in der Atemgymnastik begangen wurden. Das noch unerprobte selbstbezĂŒgliche Verhalten gegenĂŒber dem eigenen Körper konnte in den Autismus, die Selbstverliebtheit und die Kontaktlosigkeit fĂŒhren. Die distanzlose Vereinnahmung durch die Guppe, durch die hindurch die Meisterin die einen persönlich bindet und die anderen um so gewaltsamer abstĂ¶ĂŸt, war eine andere GefĂ€hrdung, die auf eine weitere Ambivalenz verweist. Es ist schwer zu entscheiden, inwieweit sich die Gemeinschaftsbindungen von den Projektionen eines Ichideals ernĂ€hrten und die proklamierte IchstĂ€rke tatsĂ€chlich eine war, die ĂŒber den engen Rahmen der Gemeinschaftsbindungen hinaus gelebt werden konnte.

Die Wegbereiter der westlichen Atemarbeit waren Pioniere und setzten eine Saat, die teilweise ĂŒberwinterte und zunĂ€chst nur keimen konnte. Denn das Ziel der westlichen Atemarbeit, den Eigenrhythmus eines Menschen zum Ausgang seines Tuns und Schaffens zu nehmen, setzt realgeschichtlich voraus, dass Lebensmöglichkeiten bestehen, in denen Menschen leibseelische Balancen zwischen Kultur und Eigennatur in höchst individueller Weise finden können und auch mĂŒssen. Dies ist in einem breiteren sozialen Maße erst jenseits der entfalteten großindustriellen Zivilisation der Fall und wird in seiner geschichtlichen Perspektive allmĂ€hlich bewusst.

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Die reformpÀdagogische Anregung

Alle maßgeblichen ReformpĂ€dagogen kannten ĂŒber die bĂŒndische Jugend und den Wandervogel die Atem- und Gymnastikfrauen der damaligen Zeit und hatten oftmals als Kursteilnehmer engen Kontakt zu ihnen. Hede Kallmeyer, eine Atemgymanstik-Lehrerin der ersten Stunde, war eng mit Ernst Herrmann Harless, einem ehemaligen Lehrer an der Odenwaldschule befreundet. An dieser wurde  mit der Koedukation ernst gemacht. Auch wurden dort die Ideale der Frauenbewegung hochgehalten. Doch die Knaben wollten lieber Turnen als sich in rhythmischer Gymnastik ĂŒben. Harles holte Kallmeyer 1934 als Leiter des Landeserziehungsheimes auf Schloss Marquardt in Bayern. Dort gab sie Bewegungsunterricht und fĂŒhrte ihre Gymnastikschule weiter. Sie hatte auch Harless’ Tochter Ruth zur Atemlehrerin ausgebildet.

Die Atemlehrerinnen Hedwig von Rhoden und Louise Langaard waren freundschaftlich mit dem ReformpĂ€dagogen Herrmann Lietz verbunden, der seine patriarchalisch geprĂ€gten Landerziehungsheime jeweils fĂŒr eine Altersstufe reservierte. Dort wurden  Religion, Treueprinzipien, Pflichten und Ämter eingeĂŒbt und Parzival stellte man als Ideal vor. Lietz ließ nicht die romantische Jugendbewegung in seine Heime. Er selbst war 1913 statt zur legendĂ€ren Meißnertagung nach Leipzig gezogen, um bei der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals zugegen zu sein. Lietz stellte den beiden Frauen fĂŒr ihre Ausbildung das Schloss Bieberstein bei Fulda zur VerfĂŒgung. (Dort war die Oberstufe des lietzschen Heimgymnasiums institutionalisiert). Von  Rhoden und Langaard grĂŒndeten die Lohelandschule fĂŒr Gymnastik, Landbau und Handwerk, die neben der anderen Frauensiedlung, Schwarzerden, zu den drei Dutzend SiedlungskommunitĂ€ten in der Weimarer Zeit gehörten. Auch Hedwig von Rhoden war von Hede Kallmeyer ausgebildet worden und ging schließlich in die Eurythmieausbildung der Anthroposophen.

Der reformpĂ€dagogisch gesinnte Berliner Oberschulrat Franz Hilker, der 1926 zusammen mit Elsa Gindler den 1933 aufgelösten Deutschen Gymnastikbund mitbegrĂŒndete  –  beide waren die Vorsitzenden gewesen  –, war ebenfalls Loheland zugeneigt. Hilker war ein Organisator, der zusammen mit L. Pallat unter dem Titel „KĂŒnstlerische Körperschulung“ den Sammelbericht ĂŒber die „Tagung fĂŒr kĂŒnstlerische Körperschulung “ (Breslau 1925) herausgab. Diese hatte 1922 in Berlin stattgefunden und war die entscheidende programmatische Zusammenkunft der Vertreter der Gymnastik-Tanz-Ausdrucksbewegung.

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Besonders die bildhafte Symbolwelt der Kunst verweist auf den Atemleib als das vitale Zentrum von mĂ€nnlichen und weiblichen Leistungen. Die Atemfrauen gewannen ihre reformpĂ€dagogischen Inspirationen, weil ihnen durch dichte Atemerfahrungen immer wieder aufs Neue der enge Zusammenhang zwischen symbolischem Ereignis und physiologischer Situation offenkundig wurde. Dem Atem musste man sich anzuvertrauen, um die motorischen Ressourcen zu mobilisieren und die BefindlichkeitszustĂ€nde zu aktivieren. Alle Atemarbeiten greifen, da die GroßhirnaktivitĂ€ten lateral im umgekehrten VerhĂ€ltnis zur Sensomotorik organisiert sind, auch in die linearen und analogen Verarbeitungsweisen ein, integrieren und bahnen Verbindungen zwischen den GehirnhemisphĂ€ren. So wĂ€ren die verschiedensten Konzepte sowohl der Atemarbeit als auch der ReformpĂ€dagogik danach zu ordnen, inwieweit sie mehr links- oder rechtshemisphĂ€rische Verhaltens- beziehungsweise Lerntypen unterstĂŒtzen.

Lange bevor die Wissenschaften diese ZusammenhĂ€nge erkannt hatten, geboten die Erfahrungen aus der Atemarbeit, dass sensomotorischen Entwicklungen als leiblichem Grund der Wachheit, Aufmerksamkeit und Körpererinnerung ihre Zeit zum Ausreifen gegeben werden sollte, damit  kognitive Lernleistungen selbstsicher ausgebaut werden können. . . .

Vor allem in den von Gindler geprĂ€gten Kooperationen wurde das egalitĂ€re Extrem der reformpĂ€dagogischen Konzepte erprobt, die ein internationales Thema des vergangenen Jahrhunderts geworden sind und deren Anspruch auf Ganzheitlichkeit nicht nur an die Regelschulen adressiert wurde, um diese als Arbeitsschulen und Kunsterziehungsschulen umzugestalten. Sie beflĂŒgelten außerdem die Volksbildung der Erwachsenen sowie den Ausbau sozialpĂ€dagogischer Einrichtungen. In allen Bildungs- und Lernprozessen, so die reformpĂ€dagogische Botschaft, sollte vom konkreten Menschen, von dem, was er mitbringt, und nicht vom abstrakten EffektivitĂ€tsmaß Leistung ausgegangen werden.

ReformpĂ€dagogische Konzepte sind meistenfalls keine Tribute an die sozialen Ungleichheiten in der Schule und teilweise nicht nur gegenĂŒber einem sozialen Bildungsanspruch gleichgĂŒltig, sondern wurden auch  von elitĂ€rer Erziehungsprinzipien in Anspruch genommen  Ihr innerster Kern besteht  jedoch darin, den Einzelnen zu unterstĂŒtzen, seinen eigenen Weg zu finden. Durch das Einbeziehen aller, das Vertrauen und die Anerkennung, bildet sich ein entscheidender atmosphĂ€rischer Gewinn, durch den ein Halt und Sicherheit spendendes Lernmilieu innerhalb eines institutionell konsolidierten Sinns gedeiht. Diese vom Individuum ausgehende BegrĂŒndetheit, die den menschlichen Kontakt zwischen PĂ€dagoge und SchĂŒler zum Ausgang nimmt, zielt darauf ab, die KooperationsfĂ€higkeit zu fördern und ermöglicht vor allem Arbeits- und Lernweisen, die in der Regelschule durch Zensursysteme blockiert oder an den Rand gedrĂ€ngt werden.

Von der Leiblichkeit beim Lernen auszugehen, verlangt keineswegs auf das abstrakte Denken zu verzichten und höheres Wissen als bauchfremd abzulehnen, sondern die lateinische Grundbedeutung des „Dazwischenseins“ als ein leibliches ResonanzphĂ€nomen ernst zu nehmen. Keine noch so ausgefeilte Didaktik kann das jede gute PĂ€dagogik tragende personale VerhĂ€ltnis ersetzen, das jenseits der Darbietung mundgerechter HĂ€ppchen von Wissens liegt und aus dem ĂŒberhaupt Bildung hervorgeht, die das ist, was bleibt, wenn alles Wissen vergessen und alle Fertigkeiten verlernt worden sind. Den hierfĂŒr notwendigen sensiblen Leibesgrund werden wir als FĂ€higkeit zum „Transsensus“ und als Aufbau eines gemeinsam bewohnten und gestimmten Raumes weiter oben (Begegnung) ansprechen.

Das verbindende Prinzip war als reformpĂ€dagogische Leitidee in seiner atempĂ€dagogischen Grundlegung gar bis zu seiner Übersteigerung erkannt worden, was jenen Gesamtblick und jene soziale Prozessdynamik schafft, durch die der Einzelne fĂŒr das Ganze tĂ€tig ist und sinnvolle Ideen sowie Eigeninitiativen entwickelt, ohne dafĂŒr mittels moralischer Selbstverpflichtung verantwortlich sein zu mĂŒssen. Denn der reformpĂ€dagogische Impuls der Atem- und Leibtherapeuten war von dem durch Atemerfahrungen fundierten Bestreben und dem Vertrauen in die individuellen KrĂ€fte eines Menschen getrĂ€nkt, dass nicht die RivalitĂ€t zwischen den Menschen, sondern ihre gegenseitige ErgĂ€nzung die sozialen Beziehungen fĂŒhren soll.

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Begegnung

Es ist Volkmar Glaser, SchĂŒler von Ludwig Schmitt, der dem Begegnungscharakter der Atemarbeit wohl die fortgeschrittenste Formulierung gegeben hat. HierfĂŒr setzt er bei Ludwig Binswanger und Martin Buber an. Binswanger vermisste in Heideggers Epochenschrift „Sein und Zeit“ das Wir, das er als das ursprĂŒngliche Konstituum des Humanen ansah, das nicht nur als ein „Mitsein“ hervorgebracht werden konnte. Der mit Sigmund Freud bis an dessen Lebensende befreundete Binswanger wusste, dass ein derart weitreichender Verbindungsdrang eines ĂŒberspringenden Funken bedarf, dessen materieller Antrieb, sollte er auf Dauer gestellt sein, nicht in der SexualitĂ€t, sondern in der Liebe zu entdecken war.

Der „Überschwang“ wird zum transsensischen Datum, das uns beim anderen ankommen und mit ihm solidarisch sein lĂ€sst, wodurch wir –  fĂŒgen wir dies unserem Thema vorauseilend hinzu –  Atemraum schöpfen. Die bei Heidegger ontologisch angelegte Raumkategorie des „In-der Welt-seins“ wendet Binswanger entgegen dem Anliegen Heideggers ins Anthropologische, indem er ein transsensisches, die Liebe teilendes Wir formuliert, in dem der Einzelne „In-der-Welt-ĂŒber-die-Welt-hinaus“ und damit kein Einziger mehr ist. Das Wir kennt im Moment seiner Realisation keine Ich-Unterscheidung.

Nicht nur die anthropologischen Forscher der deutschen Medizin und Psychiatrie, Ludwig Binswanger, Viktor von WeizsĂ€cker, Erwin Strauss und Herbert PlĂŒgge, sondern auch die französischen Denker Gabriel Marcel, Maurice Merleau-Ponty und Jean Paul Sartre machten allesamt ihre Weise auf die Möglichkeit der kohĂ€renten LeibverschrĂ€nkung des Menschen mit seiner Um-, Mit- und Gegenwelt aufmerksam. Dass der leibliche Mensch nicht mit seiner Haut endet, wusste nicht nur Binswanger, wenn er vom „gestimmten Raum“  spricht, in welchem er inspiriert durch den Dialogismus Martin Bubers den anderen suchte.

 

Im Aspekt der Begegnung verliert das transzendentale Subjekt bei einer Atembehandlung oder einer Atemmassage sein Leberecht . Das „Ich denke“ wird  nicht einmal durch die Gewissheit des „Ich bin“ ersetzt. Wir können in dieser Beziehung, die im Grunde weder ein Objekt noch ein Subjekt hat, nur anwesend sein, wenn wir „in“  sind, das heißt, dass wir dem Geschehen gerade nicht mit einer Reflexion gegenĂŒbertreten. Wir sind in einer Atembehandlungs-Situation prĂ€sent, wenn wir sie geradezu gedankenlos durchleben und in dieser aufgehen. Dann aber ist alles, was eine Behandlung auch ausmacht und was an das Ich gebunden ist, die angesetzten Griffe, die analytische Betrachtung des Atems, die Wahrnehmung der BerĂŒhrung und das sprachliche Vergewissern aufgehoben „Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung“ , formuliert der einem religiösen Sozialismus verpflichtete Martin Buber in „Ich und Du“..

Mit den klassischen Begriffen von Subjekt und Objekt kommen wir nicht weiter, weil das Gemeinte nicht mehr als ein Objekt bezeichnet werden und das Gemeinte ebenso wenig ein Etwas ist, ĂŒber das man sprechen kann. Die klassische oder besser die transzendentale Vernunft gerĂ€t an jenem Punkt an ein Ende, wo Natur und Kultur ihr unmittelbares Einheitsfeld haben. Exakt diese Unmittelbarkeitsrelation konstituiert die gelungenen Momente in der Atembehandlung. Das Geschehen der zwischenmenschlichen Begegnung ist das Gewisse, das Martin Buber seinerzeit als jenen „schmalen Grad“ thematisierte, ĂŒber den es „keinerlei Sicherheit eines aussagbaren Wissens gibt“.

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Auf dem Weg zu Hitler

Das Atemthema ĂŒberfordert noch immer, weil auch dieses in den „Jahrhundertschritt“ (Wolfgang Mattheuer) zwischen Faschismus und Kommunismus eingespannt ist und sich wie alles, was seit der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert geschah, einer einfachen Deutung entzieht. Der archimedische Punkt, von dem aus der jugendliche Elan, die weltanschaulichen Strömungen der politischen, kulturrevolutionĂ€ren, zivilisationskritischen und lebensreformerischen Strömungen dieser Zeit zu vermessen wĂ€ren, existiert wohl nicht. Zu unterschiedlich waren die ideellen Motive, der soziale Habitus und die politischen PrĂ€ferenzen ihrer Protagonisten, als dass die Manifestationen vom Jugendstil bis zum Expressionismus, von der Wandervogel- und Siedlungsbewegung bis zur ReformpĂ€dagogik, von der Programmatik des Werkbundes bis zum Modell des Bauhauses sowie von der Reformgymnastik und dem Ausdruckstanz bis zum Atmen als Erlebens-, Lebens- und Heilkunst auf einen Nenner zu bringen wĂ€ren. Da die Vergemeinschaftungen durch Wanderschaft, avantgardistische Kreise, politische Zirkel und Freundschaften, durch AktivitĂ€ten fĂŒr SchĂŒlerzeitungen, Rundbriefe und FlugblĂ€tter sowie die Aufenthalte in den KaffehĂ€usern eine formative Kraft in der Entwicklung der bĂŒrgerlichen Jugendbewegung waren, in der sich Gymnastiasten und Studenten versammelt hatten, kannten sich die meisten gegenseitig und kamen irgenwie miteinander aus, bis sie der Erste Weltkrieg durch sein russisches Ende im roten Oktober, dem Auftakt zum „WeltbĂŒrgerkrieg“ (Ernst Nolte), in die politisch gegensĂ€tzlichen Lager trieb.

Die krisenhafte Stimmungslage und die sozial-politische Zerrissenheit, die um die Jahrhundertwende eingesetzt hatte und durch den Ersten Weltkrieg forciert worden war, verlangte in allen sozialen Schichten Orientierungsangebote. Die Oktoberrevolution im Jahre 1917, die das Ende des Ersten Weltkrieges einlĂ€utete, hatte immense EinflĂŒsse auf die bĂŒrgerlichen Bildungsschichten der Weimarer Republik, deren Wertehierarchie durch den Ersten Weltkrieg beschĂ€digt und durch die nachfolgenden revolutionĂ€ren Wellen anhaltend in Frage gestellt war. Zu viele waren nach dem Zusammenbruch der alten Welt von ihren frĂŒheren sozialen und metaphysischen Bindungen freigesetzt und auf der Suche, was vor allem heißt: gegenĂŒber keinem Irrtum gefeit. Millionen suchten ihr Heil aber nicht nur im Okkultismus, im Vegetarismus und im biologischen Landbau, in der Nacktkultur sowie in der Theosophie und Anthroposophie, sondern engagierten sich auch in politischen Massenbewegungen. Zwischen proletarischer und nationaler Revolution, siedelten sich mit unschĂ€tzbarer Wirkung auf die Moderne die Aufbruchs- und Protestbewegungen der kĂŒnstlerischen BohĂšme und Avantgarde, die VerkĂŒndungen der Psychoanalyse, der Lebensreform und der Anthroposophie und die Inspirationen der atem- und leibpĂ€dagogischen Praktien an.

Da Jugendbewegung und Lebensphilosophie den Protest des Sturm und Drang gegen den Rationalismus wiederholten, aber nicht nur gegen die vermeintlichen Ewigkeitswerte der bĂŒrgerlichen Moralkonventionen antraten, sondern auch gegenĂŒber den naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritten das Leben einklagten, gelten sie als zutiefst irrationale Bewegungen. Vor allem suchte man wieder den Zusammenklang der Dinge, wodurch das Leib-Seele-Geist Geschenen in den Mittelpunkt rĂŒckte. Man griff hierbei auf die Metapher sowie die Mystik zurĂŒck und dachte in Begriffslabyrinten, denen oftmals der Ausgang ins Diesseitige fehlte.

Der Pfad zwischen Kosmogonie und Okultismus war schmal, als  all das wieder eingeschaltet wurde, was sich schon im siebzehnten  Jahrhundert nicht mehr bruchlos ins Medium des AufklĂ€rungsbewusstseins aufheben ließ und sich damals nicht nur gegenĂŒber dem Cartesianismus, sondern aller philosophischen und wissenschaftlichen Methode in Reserve gehalten hatte. Eigentlich war es nur der modernen Kunst mit ihren Waffen der Ästhetik erlaubt, von kosmischen Existenzen zu trĂ€umen, um die Ambivalenzen der modernen Welt auszuleuchten. Ist aber alles andere durch einen ideologischen Limes voreinander zu trennen, der seit der Oktorberrevolution  zwischen den Standpunkten gezogen worden war?

Nachdem in den bĂŒrgerlichen Schichtender Glaube an Gott am Schwinden war, wurde in der Krisenzeit die christliche Religion durch die Gnosis, die zweite Erlösungsreligion des Abendlandes, gegen die das Christentum sich einst im blutigen Streit durchgesetzt hatte und die als unterirdischer Strom nie versiegt war, beerbt: Katharer, Alchimisten, Hildegard von Bingen, Paracelsus, Jakob Böhme und Rosencreutzer sowie Templer und Cralsorden stehen als Namen fĂŒr Bewegungen, an die im zwanzigsten Jahrhundert mit konzeptionell gleichgerichtetem oder gegensĂ€tzlichem Weltanschauungsende Anschluss gesucht wurde, beispielsweise durch die Theo- und Anthroposophie, Teilhard de Chardin, die Analytische Psychologie von C. G. Jungs und die Mazdaznanlehre von Otoman Hanisch sowie von der Thule-Gesellschaft und von dem Neutemplerorden des Adolf Josef Lanz.

In der Weimarer Krisenzeit erhielten die endzeitlichen Erlösungsversprechen Auftrieb, die in Geheimlehren seit der zweiten HĂ€lfte des neunzehntenJahrhunderts vorbereitet worden waren. Unpolitische Inhalte der Theosophie in Verbindung mit der Naturheilkunde als dem Ursprungskern der Lebensreform sowie das kosmopolitische Streben nach VerbrĂŒderung zwischen den Völkern, Rassen und Religionen wurden in Deutschland und Österreich schon frĂŒh durch einen aggressiven Antisemitismus umgewandelt. Es entstand ein ideologisches Gemisch, dessen okkulte Erlösungstheorien sich nach dem Ersten Weltkrieg in Weltherrschaftsphantasien radikalisierten. Daran konnten Hitler, Rosenberg und Himmler direkt anschließen. Die frĂŒhen fĂŒhrenden Nazis waren Mitglieder der Thule-Gesellschaft und Hiltler hatte sich selbst bei Lanz frĂŒh informieren lassen.

Eine gnostische Metaphorik des arischen Nazimythos ist zweifellos gegeben. Aber ZĂŒge des gnostischen Schwarzweißdenkens sind jedoch nicht  nur bei vielen neueren Philosophen und Theologen ohne großen philologischen Aufwand, sondern auch in mancher frĂŒhen Darbietung der Atemlehren zu entdecken, so dass in dieser Hinsicht von vornherein eine weite Konvergenz der Ideologien zwischen den verschiedensten sozialen Milieus bestand. In „Gnosis und spĂ€tantiker Geist“ (1934) zeigte Hans Jonas, dass in allen Systemen der Gnosis ein Urmythos steckt, in dem inmmer zweierlei gegeneinander steht: göttliches Licht und teuflische Finsternis, die einstmals geschieden waren. Meist stĂŒrzten die paradiesischen ZustĂ€nde wegen weiblicher VerfĂŒhrungen ein. Der Erlösungsprozess als weltgeschichtliches Ziel sollte sich im Innern als ĂŒbersinnliche Weltjenseitigkeit abspielen, um den Wiederaufstieg vorzubereiten, der im großen Entscheidungskampf besiegelt wird.

 

Der Malerprophet Fidus wurde zum KĂŒnstler, der die Lebensreform durch die ideologische AufrĂŒstung von rechts her abstĂŒtzte und  in die Kleinproduktion des „Lichtgebets“ einstieg, das er in immer neuen Varianten anfertigte. Das 150. Exemplar soll sich Martin Borman, der Leiter von Hitlers Staatskanzlei, an die Wand gehĂ€ngt haben. Fidus blieb in den zwanziger Jahren in selbstgewĂ€hlter sozialer Isolation in der Villen-Kolonie Woltersdorf und verwaltete sein schmalspuriges kĂŒnstlerisches Lebenswerk. 1932 trat er in die NSDAP ein und wurde spĂ€ter vom „FĂŒhrer“ zum Professor h.c. ernannt. Er, der sich ehedem durch seinen jĂŒdischen Freund und MĂ€zen großzĂŒgig 12.000 Reichsmark bedinungslos hatte schenken lassen, die er fĂŒr den Bau des Fidushauses in Woltersdorf verwandte, hatte keine Skrupel.

Fidus war mit der namhaften Atemlehrerin Hede Kallmeyer und ihrem Mann Ernst freundschaftlich verbunden, der sich ebenfalls zum Propheten berufen fĂŒhlte und der seine wirtschaftsgenossenschaftlichen Ziele bis in Mazdaznan-Speisefragen hinein begrĂŒndete. Zum Freundeskreis der inneren Lebensreform gehörte auch die Schriftstellerin Gertrud Prellwitz und deshalb treue deutschvölkische VorkĂ€mpferin des Nazitums, weil sie es selbst dann nicht unterlassen konnte, den FĂŒhrer in ihren Rundbriefen anzubeten, nachdem man ihren dreibĂ€ndigen Jugendroman „Drude“ wegen seiner veralteten völkischen Ideen beschlagnahmt hatte.

Vogeler fand dagegen nach 1918 Kontakt zur revolutionĂ€ren Arbeiterbewegung, schenkte sein Worpsweder Anwesen der Roten Hilfe, reiste 1923 zum ersten Mal in die Sowjetunion und unterrichtete dort ein halbes Jahr an der Moskauer UniversitĂ€t. Er arbeitete in der Folgezeit eng mit der KPD zusammen, meldete sich nach dem Überfall der deutschen Truppen auf die Sowjetunion freiwillig als SechsundneunzigjĂ€hriger bei der Roten Armee und geriet schließlich in die MĂŒhlen des Stalinismus. Er starb 1942 in Kasachstan.

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Nicht jÀh unterbrochen

Gerade weil der Nationalsozialismus noch heute in aller Knochen steckt, bedarf er seiner Historisierung, um Distanz zu gewinnen. Das bekanntgewordene Wissen um politisch AnrĂŒchiges hat sich unterdessen so als hypermoralischer Erinnerungsdruck verselbstĂ€n- digt, dass die Ambivalenzen innerhalb der kulturellen Gebiete und sozialen AktivitĂ€ten geradezu unter den Tisch fallen. In allen Bereichen der politisch virulent gewordenen Kultur wirkte der nationalsozialistische Staat entweder abweisend, verfolgte die ReprĂ€sentanten politisch und zwang sie zur Emigration oder er bot Arbeitsmöglichkeiten, integrierte und instrumentalisierte Interessen sowie Ideen, rief gar Begeisterung hervor. Da hinter dem politischen Gleichschaltungsdruck auch immer die Verbotsdrohung stand, entstanden neben der Ă€ußerlichen Anpassung und dem reinen ÜberlĂ€ufertum, Koalitionen zwischen den ReprĂ€sentanten der StaatsbĂŒrokratie, einzelnen Machtzentren innerhalb der NS-Herrschaft sowie gesellschaftlichen Organisationen.

Skizzieren wir die ZwiespĂ€ltigkeiten innerhalb verschiedener sozialkultureller Bereiche, um zu verdeutlichen, wie viel bequeme Selbstgerechtigkeit der ritualisierten Aufarbeitung der Vergangenheit anhaftet, wo es im Grunde nach den Zerrissenheiten des latenten BĂŒrgerkriegs keine soziale und politische Kraft mehr geben konnte, die nach 1933 nicht durch den Nationalsozialismus korrumpiert wurde oder unbeschĂ€digt blieb. Der nationale Sozialismus wollte im Gegensatz zum kommunistischen Internationalismus die eigenen Traditionen transformieren und ihnen innerhalb der nationalsozialistischen Rassenideolo- gie einen Platz zuweisen. Damit zerstörte man das, was zum Besten der deutschen Kultur gehört, nĂ€mlich Bildung, die seit der Renaissance, erst recht seit der AufklĂ€rung, der Klassik und Romantik vom Fortschritt und Humanismus und keineswegs nur national oder gar nationalistisch geprĂ€gt war.

Es ist auch heute noch schwierig, im RĂŒckblick zu unterscheiden und nicht bequem Totalverdikte auszusprechen. Sollen nicht alle KontinuitĂ€ten reflexhaft als unheilvoll bezeichnet werden, so ist man geradezu gezwungen, einen Sinn fĂŒr diese zu entwickeln, ohne sich vom Nationalsozialismus bezwingen zu lassen. Es gilt fĂŒr jede Epoche von neuem zu versuchen, „die Überlieferung ... dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu ĂŒberwĂ€ltigen“ (Walter Benjamin). Auch das gepflegte antitotalitĂ€re Bewusstsein der Bundesrepublik, das deren hypermoralischen Diskurse prĂ€gt, ist von Machtbeziehungen und Interessenkonflikten durchzogen, so dass lĂ€ngst den besten Potentialen neuester Theorieentwicklung die Korrumpierung droht. Dies gilt gleichermaßen den SelbstgefĂ€lligkeiten des modernen Scientismus und der gesellschaftskritischen Diskurspragmatiker, gegen welche gleichermaßen die Tradition zu retten ist.

ZunĂ€chst war die Atemarbeit vor 1933 in jene oppositionelle Gegenbewegung der Naturheilkunde und Homöopathie mit einbezogen, die den unaufhaltsamen Aufstieg der naturwissenschaftlichen Medizin im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als Erneuerungs- und Reformbewegung zu begleiten begann. Auch hier trat 1933 dazwischen. Naturheilkundlich und homöopathisch orientierte Ärzte – der ĂŒberproportional große Anteil der jĂŒdischen Homöopathen war ausgeschlossen –  sollten sich im Dritten Reich als Vertreter einer „Neuen deutschen Heilkunde“ verstehen. Auch wenn sie mit ihren ganzheitlichen Inspirationen gerade nicht diejenigen waren, die den grausamen Menschenversuch im Dienste der Wissenschaft anrieten oder an ihm beteiligt waren, so scheinen doch die VerhĂ€ltnisse viel komplizierter zu liegen. Der ReichsfĂŒhrer der SS, Heinrich Himmler, der die Vernichtung und den Menschenversuch organisierte, wollte nach dem Krieg eine Elite von SS-Ärzten heranbilden, die sich  homöopathisch orientieren.

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1934, nach der Röhm-AffĂ€re, war Schmitt das erste Mal verhaftet worden, nachdem er einem betroffenen SA-Freund bei der Flucht ĂŒber die Grenze zur Schweiz geholfen hatte. Er kam zunĂ€chst in das MĂŒnchener GefĂ€ngnis Stadelheim, in das seine Ă€rztliche Mitarbeiterin Frederike Richter ebenfalls einige Monate eingesperrt worden war. Zwei Jahre spĂ€ter kam er aus dem KZ Dachau frei, verkaufte seine renommierte Naturheilklinik in MĂŒnchen und eröffnete in Berlin-Charlottenburg eine Praxis, in der sich Patienten jeder politischen Couleur trafen. Sein prominentester Patient war der Stellvertreter des „FĂŒhrers“, Rudolf Hess. Als Hess nach England geflogen war, wurde Schmitt in das KZ Sachsenhausen zur Einzelhaft eingeliefert und immer wieder zur Behandlung von NazigrĂ¶ĂŸen angefordert. Herta Richter (Atemhaus MĂŒnchen) berichtete ĂŒber die bewunderungswĂŒrdige Zielstrebigkeit ihrer Schwester, der es gelang, Schmitt heraus dem KZ zu holen. „Das Schicksal wollte es, dass grĂ¶ĂŸte Opferbereitschaft, Mut und Klugheit eines liebenden Menschen ihn ein halbes Jahr vor Kriegsende aus dem Grauen des KZ befreite. Bis Kriegsende lebte er dann unter Gestapo-Bewachung auf seinem Bauernhof in Oberbayern.“ Nach dem Krieg engagierte sich Schmitt in der kommunistisch beeinflussten Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), entwickelte einen Entwurf fĂŒr eine neue soziale Krankenversicherung und demonstrierte in den sechziger Jahren zusammen mit Studenten der MĂŒnchener UniversitĂ€t gegen die Atomwaffen.

Selbst im Zentrum des Diabolischen wurde die Atemheilkunst genutzt. Heinrich Himmler litt so unter Magenschmerzen, dass er nicht ohne tĂ€gliche Atemmassagen auskam. Heinrich Fraenkel und Roger Manvell berichteten in ihrer aufschlussreichen Biografie „Himmler. KleinbĂŒrger und Massenmörder“, wie er bei seinem Heilmasseur Felix Kersten von seinem Geplagtsein um „die MĂ€nner und Frauen in seinen TotenkopfverbĂ€nden, die die furchtbare Last ihrer Untaten auf sich nehmen mussten“ Entlastung suchte. Kersten, der nach seinem Medizinstudium durch den chinesischen Arzt Dr. Ko ausgebildet worden war, befreite mit seinen begnadeten HĂ€nden nicht nur Himmler von seinen Schmerzen. Er musste Beichtvater spielen und wurde in vieles eingeweiht. Kersten, der wider seinen eigenen Willen Himmler behandeln musste, arbeitete mit dem hollĂ€ndischen Untergrund zusammen. Waren die AnsĂ€tze zu einer „deutschen Heilkunde“ auch eine Archillesferse des Systems?

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Heyer war 1933 noch ein ĂŒberzeugter Gegner der Nationalsozialisten und hatte sich ĂŒberlegt, das Land zu verlassen. Von diesem Schritt zurĂŒckgehalten hatte ihn C. G. Jung, der sich den Nazis anbiedernd das Vakuum ausnĂŒtzen wollte, nachdem die Psychoanalyse wegen ihrer jĂŒdischen und kommunistischen Therapeuten vor der organisatorischen Auflösung stand. Heyers schon zwei Jahrzehnte anhaltendes Engagement in der Auseinandersetzung mit der naturwissenschaftlich ausgerichteten UniversitĂ€tsmedizin wollte sich nicht einfach in ein jungianisches Konzept pressen lassen. Nicht nur die 1943 veröffentlichten Fallstudien „Menschen in Not. Ärztebriefe aus der psychotherapeutischen Praxis“ bezeugen ein beeindruckendes Ă€rztliches Wirken von Heyer sowie einiger Kollegen in der Zeit des Nationalsozialismus, das von der intuitiv gefĂŒhrten Zwiesprache geprĂ€gt, mitnichten von sterilen psychodynamischen Begriffsbildungen ausgehalten ist. Übrigens hat Heyer zu den drei am meisten gelesenen Fachautoren der Psychosomatik in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit gehört.

Heyer bezeichnete seinen ehemaligen Duzfreund Jung im Nachhinein als „leidenschaftlichen ParteigĂ€nger“ der Nationalsozialisten und „miserablen Charakter“. FĂŒr Heyer war seine NSDAP-Mitgliedschaft keineswegs – wie fĂŒr Jung – ein bloßer „Ausrutscher“ gewesen. Er, der zeitlebens aufs Ganze ging, schwieg zunĂ€chst schuldbewusst. Auch andere Berliner Jungianer, die am Deutschen Reichsinstitut gearbeitet und in Opposition zu den Nationalsozialisten gestanden hatten, wie etwa die HalbjĂŒdin KĂ€the BĂŒgler, mit der Veening nach dem Zweiten Weltkrieg engstens zusammenarbeitete, waren bitter enttĂ€uscht von Jung. Denn dieser hatte sie zunĂ€chst in die nationalsozialistische Ecke gedrĂŒckt, um dann 1940 zunĂ€chst von ihnen abzurĂŒcken und nach 1945 die bezichtigende These von der unseeligen Kollektivschuld in die Welt zu setzen. Jung sprach sich im Übrigen, als er von den Behörden als prominenter Leumund befragt wurde, dagegen aus, dass Heinrich Jacoby, der eng mit Elsa Gindler zusammengearbeitete hatte und emigrieren musste, in die Schweiz einwandern durfte.

Ein Institutsmitglied war Mitglied der Roten Kapelle: 1943 wurde der Psychoanalytiker John Rittmeister hingerichtet. Regine Lockot stellte ernĂŒchtert fest, dass ansonsten die Psychotherapeuten nach 1933 und nach der vollzogenen Trennung von den meisten jĂŒdischen Kollegen ihre Arbeit weiterfĂŒhrten, wie sie diese auch unter einem anderen System verrichtet hĂ€tten. Viel anders ist es wohl auch nicht mit den AtempĂ€dagoginnen gewesen.

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Es könnte ĂŒberhaupt eine Aufgabe der Zeitgeschichtsforschung sein, die beeinflussenden VerhĂ€ltnisse, Verbindungen und Freundschaften offen zu legen, in denen die Persönlichkeiten der AtempĂ€dagogik gestanden haben. Bei dem trotz allem ahnendurstig gebliebenen Heyer könnte außer dem George-Kreis auch die Ludwig-Maximilians-UniversitĂ€t interessant sein. Sie war seit der Jahrhundertwende ein Zentrum des biologischen Denkens gewesen. Schon 1927 wurde hier die erste Professur fĂŒr Rassenhygiene geschaffen. Die Innerasienforschung war spĂ€ter verquickt mit der MĂŒnchner SS-Einrichtung namens „Innerasienforschung im Ahnenerbe“, die dem ReichsfĂŒhrer der SS, Heinrich Himmler, unterstand. Himmler hatte immer einen Koran bei sich und seine bevorzugte LektĂŒre waren die Bhagavad-Gita. Die LMU hatte nicht nur die Widerstandsbewegung der Weißen Rose, deren Mitglieder  sich den Ideen der bĂŒndischen Jugend verbunden fĂŒhlten, sondern hatte den Rassismus beherbergt, war militarisiert und mit den SS-Machtzentren vernetzt.

SelbstverstĂ€ndlich wollten es die Beteiligten nie so genau wissen. Sie retteten sich vor allem mit Schweigen und wurden auch deshalb verschwiegen. Karoline von Steinaecker ist nahezu die Einzige geblieben, der gegenĂŒber sich die noch lebenden Wegbereiterinnen der Atemarbeit  informationsbereit gezeigt haben. Doch sie beschrĂ€nkte leider ihre Studie „LuftsprĂŒnge moderner Körpertherapien“ auf den Zeitraum von 1900 bis 1933 und klammerte zudem in ihrer geschichtlichen Darstellung selbst fĂŒr diesen Zeitraum noch die mĂ€nnlichen Atempioniere aus, die meist Ärzte waren und die ebenso wie die Frauen nicht nur eine Geschichte ĂŒber 1933 hinaus hatten, sondern auch unter dem nationalsozialistischen Regime institutionelle Wirkungskraft entfalten konnten. Die medizinhistorische Dissertation von Stefan Dietrich „Atemrhythmus und Psychotherapie“, welche die Veening-Arbeit in den Mittelpunkt stellt, abstrahiert völlig von der geschichtlichen Zeit und umgeht so die Überforderung, dem Tun der Atem-und LeibpĂ€dagon im Nationalsozialismus gerecht zu werden. 

Sicher ist die Atemgeschichte vor allem eine Frauengeschichte, weil es zu neunzig Prozent weibliche Wegbereiterinnen waren, die sie gebahnt haben. Aus meist gutbĂŒrgerlichen Familien stammend durchbrachen sie deren strikte Verhaltenskodexe, um sich in abgeschiedenen Lebensgemeinschaften selbst zu erfahren und selbst zu verwirklichen. HĂ€lt man aber darĂŒber die damalig politisch inspirierte Frauenemanzipation mit ihren sozialkulturellen TĂ€tigkeiten und starken Frauenpersönlichkeiten als Folie, so erweist sich die Suche nach der erfĂŒllten Natur, der gesunden ErnĂ€hrung, der asketischen Strenge und der entsexualisierten Geschlechtlichkeit auch als antimoderner RĂŒckzug aus der Welt und kann auch als Frauenthema ebenso wenig von den politischen Zerrissenheiten abgesehen werden.

Indem von Steinaecker das Atemthema als ein ideologiekritisch prĂ€pariertes Frauenthema generiert, bei dem sie sich stĂ€ndig gegenĂŒber der proklamierten Naturhaftigkeit abzusetzen gezwungen sieht, wird gerade keine AufklĂ€rung erreicht, sondern wird die Frage neutralisiert, weshalb das Atmen nahezu ungebrochen einen sozialen Ort unter dem Nazi-Regime finden, ja dort sich erst so richtig entfalten konnte.. . .

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Psychoanalyse und Marxismus

Das vergangene Jahrhundert war nicht nur ein Zeitalter der Diktaturen, die das Problem der aufgeweckten VitalbedĂŒrfnisse fĂŒr alle Zeiten und vollstĂ€ndig aus der Welt schaffen wollten, indem sie funktional orientierte Strukturen und rational arbeitende zentralisierte Institutionen schufen. Durch das Wirken dieser OrganisationsmĂ€chte hindurch wurden vor der implosiven Selbstaufgabe der sozialistischen Gesellschaftssysteme, also keineswegs nur im Westen, alle Horizonte der Tradition ĂŒberwunden und die kulturelle sowie soziale Teilhabe ausgebaut, jedoch lediglich im demokratisch, rechts- und sozialstaatlich gerahmten Kapitalismus auch alle Grenztore geöffnet.

Dabei war das vergangene halbe Jahrhundert, nicht nur, aber auch besonders in der alten Bundesrepublik ein Zeitalter der Befreiung durch Erinnerung und bewusste Aufarbeitung, jedoch auch der Gleichsetzung der Erinnerung mit moralischer Ermahnung, an die der antifaschistische Appell angehĂ€ngt wurde, politisch gegen den Kapitalismus tĂ€tig zu sein. PopulĂ€r wurde die psychoanalytische Denkfigur, die aufgibt, den Deutschen nicht im Laufe der Zeit die Erinnerung abhanden kommen zu lassen, welches Unheil sie ĂŒber die Welt gebracht haben, weil sonst das Vergessene als Wiederholungszwang wiederkehre.

Doch gerade diese tiefenpsychologisch begrĂŒndete Gewissheit scheint deshalb ins Leere zu laufen, weil die Barbarei der Nazizeit viel tiefer liegt als das Unverzeihliche, wehrlose Menschen mit industriellen Methoden hingemordet zu haben. Der Abgrund wurde 1933 damit geöffnet, als die geistige Symbiose der deutschen Kultur mit dem Judentum brachial zerstört worden war und Menschen wegen ihrer politischen Gesinnung im offenen Viehkarren johlend durch die Straßen gefĂŒhrt worden sind. Es sind aber gerade die Folgen dieser kulturellen Selbstzerstörung bereits zu Beginn der Naziherrschaft, deren Last bis heute nicht abgetragen ist, weil man in der Geschichte der Bundesrepublik gerade jenen verfolgten Andersdenkenden keine Stimme geben wollte und ihnen die Achtung wie die Nazis ehedem versagte, die nunmehr im anderen Teil Deutschlands beheimatet waren.

Die Aneignung der durch die Nazis brachial unterdrĂŒckten kulturellen Traditionen wurde lange von einer antifaschistischen Empörungsbereitschaft gefördert. Reflexhaft blockierte sie zugleich den Zugriff auf jene geschichtliche Überlieferung, welche in den einliniiegen Verdacht gestellt war, den Nationalsozialismus gefördert zu haben. Nachdem die historische Gesellschaftskritik der bĂŒrgerlichen Gesellschaft aber mit dem Niedergang des Marxismus weggebrochen ist, werden die Versöhnung mit der Geschichte blockierende Haltungen aufgetrieben, wenn in moralimprĂ€gnierter Engstellung die Transformation des Leidens an der eigenen Vergangenheit zur Erkenntnis blockiert wird. Ohne Historisierung der oppositionellen politischen  Entwicklungen in der alten Bundesrepublik ist keine Distanz zu gewinnen, die zukĂŒnftige HandlungsfĂ€higkeit im emanzipativen Interesse erlaubt, zumal auch die Psychoanalyse in ihrer kulturkritischen Substanz erschöpft ist.

Sigmund Freuds Seelenkunde wurde vor allem durch die Geschichte der beiden Weltkriege und das Drama der Vernichtung der europĂ€ischen Juden auf den strategischen FeldherrnhĂŒgel der Kultur- und Gesellschaftskritik befördert. In der westeuropĂ€ischen Nachkriegskultur sollte die Psychoanalyse zusammen mit dem Marxismus das zentrale Ideologiekonglomerat ausbilden. Unter den Bedingungen der Teilung Deutschlands wurde das Erbe des Deutschen Idealismus von der Frankfurter Schule angetreten, die dieses mit einer kritischen Geschichtsschreibung des Marxismus in der Tradition Georg LukĂĄcs’ sowie den Inspirationen der Psychoanalyse verband. Man wĂ€hnte, derart gesellschaftskritisch gerĂŒstet, den unverbesserlichen TĂŒcken der menschlichen Natur auf die Spur kommen zu können

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Die traditionelle Leibmetaphysik gegen die Unvernunft der Vernunft in Stellung zu bringen, war  in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit  unmöglich geworden. Deren reflexive Kommunikationsgewissheit war gegen jedes menschenkundliche VerstĂ€ndnis gerichtet, das nicht den bewusstseinsphilosophischen Autonomismus des Ichs anpries und stattdessen auf den sinnlichen Leib rekurrierte. Die Kritische Theorie widersprach jeder Kommunikation, die sich auf einer nichtintellektuellen Gemeinschaft innerer GefĂŒhle und Erinnerungen grĂŒndete. Die Frankfurter Schule hat das unhaltbare Urteil von Georg LukĂĄcs zementiert, das die Thematisierung des prĂ€reflexiven und unvordenkbaren Verhaltens als Stichwortgeber fĂŒr den Faschismus diffamierte.

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Adorno bezeugte die Stimmung von einem menschlichen GlĂŒck, das durch ein Zusammenleben gespendet werden sollte, das im Unterschied zu Heideggers Sehnsucht eines unverstellten „Anwesens“ in der Reflexion gehalten wurde. Damit werden aber gerade die Ich-Motive gegenĂŒber allem Vergesellschaftungspathos auch ins Unermessliche gesteigert. Dies dĂŒrfte das Ergebnis aller machtkritischen BewĂ€ltigung der hochkomplexen Vergesellschaftung der Individuen sein, der es wohl deshalb in der alten Bundesrepublik nie gelingen sollte, eine Sozialtheorie zu entwickeln. Die Verdinglichungs- und Herrschaftskritik, die Adorno vorantrieb, favorisierte kulturkritische Argumentationsmuster in der Rezeption von Nietzsches Topos von dem aus der Natur aufsteigenden Machtwillen und antwortete auf die bundesrepublikanische Konsolidierung kapitalistischer Herrschaft mit einem in der „Dialektik der AufklĂ€rung“ vorgebildeten Denkmodell: Durch indirekten Zwang werden die Individuen in die TotalitĂ€t des Gesellschaftsystems eingefĂŒgt, dem die EigentĂŒmlichkeit des TotalitĂ€ren zukomme, nachdem durch die Kulturindustrie selbst der Zufall in den Griff genommen wird und mit der Planung „identisch“ geworden ist.

Der unheilvollen Gewalt, mit der die Gesellschaft in der damaligen Sicht der Kritischen Theorie den Einzelnen bedrohe, weil deren kapitalistische TotalitÀt bis in die kleinsten sozialen TatbestÀnde hinein, in scheinbar Privates durchschlÀgt, sollte durch einen gesinnungshaften Kultursozialismus begegnet werden.

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. . .Theodor W. Adorno visiert in seiner „Negativen Dialektik“ als hehre Gattungsaufgabe nichts anderes als „die Abschaffung des Leidens oder dessen Milderung“ an. Dies ist sowohl mittellos gegenĂŒber dem Leib als auch der Gesellschaft gedacht und solchem Unsinn hat gerade das konservative Leibdenken immer widersprochen.

Bei der Frankfurter Schule wurde zur Programmatik die klassische Idee der Vernunft  erhoben, die nunmehr nicht nur das Ich zur geglĂŒckten Anpasssung bringen darf, sondern als „Hebel zur Emanzipation“ (JĂŒrgen Habermas) genutzt werden mĂŒsse. Wenn aber die in menschliche Eigennatur eingekehrte gesellschaftliche Zwangsproblematik aufgehoben werden soll, durch die das Ich unter dem Diktat der puren Selbsterhaltung seine IdentitĂ€t gewinnt, so wird entscheidend, dass die Vernunft keineswegs nur durch ihren Gegensatz zur Natur genötigt wird, sondern die menschlichen Natur mit einer unaufhebbaren Konfliktdisposition ausgestattet ist, in die sich das Gesellschaftliche hineinvermittelt. Nur deshalb gibt es eine geschichtliche Entfaltung der menschlichen Biologie und wird die Gesellschaft zur letzten Stufe der Evolution.

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Ohne Leib und ohne Gesellschaft

Die Kritische Theorie ist zum Mythos geworden, nachdem sie das spĂ€te geistige Klima der alten Bundesrepublik temperieren konnte. Sie war zur utopischen Hintergrunds- ideologie einer einzigartigen politischen Generationenbildung, die der Achtundsechziger, aufgestiegen. Uns interessiert ein von ihr mitbefördertes Zentralmuster des ideologischen Bewusstseins, wie es vor allem aus der soziologischen Theoriebildung der Nachkriegszeit hervorging, die unĂŒbersehbar von Talcott Parsons geprĂ€gt war, der die Gedanken von Émile Durkheim, Max Weber und Sigmund Freud zusammenzog, um sie in seine systemtheoretischen Intentionen einzubiegen.

Parsons hat den an den Marxismus erinnernden durkheimschen Gedanken von der Gesellschaft als einer eigenen Wirkkraft, welcher die individuelle TĂ€tigkeit als eine „soziale Tatsache“ einfĂ€ngt, in ein subjektives IdentitĂ€tsproblem aufgelöst, das die bundesrepublikanische Soziologie schließlich als Interaktions- und Kommunikationstheorie ausprĂ€gen sollte. Denn Parsons hatte keine Probleme damit, die „kollektiven Vorstellungen“ Durkheims so zu interpretieren, dass sie die kognitiv-emotionalen Beziehungen zu eigenen sozialen VerhĂ€ltnissen darstellen, von denen er die „individuellen Vorstellungen“ absetzte. So kann sich eine als Rolle konziptierte IdentitĂ€t eines flexiblen und kombinierten Ichs bilden, das sich aus der jeweiligen sozialen Umwelt eines Individuums ernĂ€hrt. Die KomplexitĂ€t der verschiedenen Rollen, durch deren Einnehmen sich das jeweilige Ich bildet, soll die Quelle der Individuation sein, nicht jedoch eine RĂŒckbindung an ein religiös-mytisches oder tiefenpsychologisches Selbst.

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In seinem 1981 vorgelegten Opus magnum ĂŒber die „Theorie des kommunikativen Handelns“ hat Habermas die RationalitĂ€t der Moderne stĂ€rker als in seinen  frĂŒheren Schriften konturiert, um weiter die Verdinglichung der menschlichen Natur kapitalismuskritisch zu verstehen und umkehrbar werden zu lassen. In der Religion entdeckt nun Habermas den vormodernen Grundkonsens, der vorsprachlich auf symbolisch vermittelter Ebene liegt und in rituellen Praktiken verankert ist. 

„Die Signatur der Moderne“ begreift er als ein Auseinandertreten dreier RationalitĂ€ten aus diesem vormodernen GrundeinverstĂ€ndnis: die der wissenschaftlichen BeweisfĂŒhrung beziehungsweise der ökonomischen NĂŒtzlichkeit, die der von Normen geleiteten, das heißt der begrĂŒndet motivierten Interaktion zwischen den Menschen, und die der Ă€sthetischen AuthentizitĂ€t mit ihrem Anhang der Kulturkritik. Die Evolution des Modernismus bis heute sei identisch mit dem zunehmenden Eindringen dieser durch Sozialsysteme vorangetriebenen Rationalisierung in die jeweiligen Lebenswelten, das nun – so Habermas’ damalige Rede – systemerschĂŒtternde QualitĂ€ten erreicht haben soll.

Im prĂ€gnantesten Wendepunkt seiner Argumentation fĂŒhrt Habermas Émile Durkheim als neuen GewĂ€hrsmann ein, nachdem er den Symbolischen Interaktionismus von George Mead im Sinne seiner Kommunikationstheorie reformuliert hatte. Habermas schließt sich dabei vor allem der spĂ€teren Schrift Durkheims ĂŒber die Religion an, um die in der Kategorie der VerstĂ€ndigung als vorsoziales Paradigma eine gesellschaftliche Integration denken zu können, die nicht lediglich als Ausfluß von umfassender oder gar totaler Kontrolle und Konditionierung zu denken ist. Doch die soziale FaktizitĂ€t, bei der zwar gar keine VerstĂ€ndigung mehr möglich ist, aber die als Soziales gerade deshalb in der fĂŒr Durkheims soziologische Theoriebildung entscheidende Studie „Der Selbstmord“ thematisiert wird, kennt Habermas’ zweibĂ€ndiges Werk allerdings nicht einmal. Diese Ignoranz ist keineswegs zufĂ€llig, sondern fĂŒr die anthropologischen und soziologischen Betrachtungsweisen der Frankfurter Schule geradezu symptomatisch, die eigentlich seit ihren AnfĂ€ngen gar keine komplexere Theorie des Sozialen kennt.

Durkheim erbringt am Beispiel der Selbstötung den soziologischen Nachweis, wie in die individuelle Haltung eigenstĂ€ndige soziale KrĂ€fte beziehungsweise ihr Ausfall hineinwirken. In der Schrift „Der Selbstmord“ wurde – so grausam es klingt – der soziale Sinn in dem Augenblick befragbar, als seine leibliche Basis vernichtet war. Hier in diesem Extrembeispiel des Selbstmordes als negierter LeibverschrĂ€nkung mit dem anderen wird der Nachweis gegeben, dass die Gesellschaft durch prĂ€reflexive Bedingungen hindurch im Menschen wirkt. Nimmt man diese Erkenntnis ernst, muss jede optimistische Annahme einer Menschenkunde hinfĂ€llig werden, die glaubt, alles der schlechten Gesellschaft zuschreiben zu können, ohne die der inneren Menschennatur innewohnende und durch keine bessere Gesellschaft beseitigbare Konflikthaftigkeit thematisieren zu mĂŒssen.

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Bezeichnenderweise nimmt Habermas alle leiblichen Elemente als bloß „biologisches Material“ aus den KommunikationsvorgĂ€ngen heraus und reduziert dadurch – behavioristischem VerstĂ€ndnis folgend – den menschlichen Organismus auf ein körperliches Instrument, das Handlungen ausfĂŒhrt. Habermas will in den Leibbeziehungen nichts Identisches erkennen, das als informatorische Resonanzbeziehung der Sprache vorhergeht, und schon gar keinen biologischen Grund ausmachen, warum sich zwei so und so verhalten. Aber die leibliche Zwischenwelt der Schwingungen, die sich zwischen Bewusstsein und Handlung schiebt, geht jedem sozialen VerstĂ€ndnis vorher– sowohl der magischen und mythischen als auch der moralischen und normativen Regelung. Dass auch von der Gesellschaftstheorie her gesehen eine phĂ€nomenale Leiblichkeit existieren muss, wenn der Organismus in eine Handlung hineingehören soll, die offensichtlich symbolisch organisiert ist, diese Tatsache, die uns direkt in das sphĂ€rische Raumverhalten fĂŒhren könnte, wird in der Kommunikationstheorie von Habermas geradezu ausgemerzt.

Auch wenn George Mead („Geist, IdentitĂ€t und Gesellschaft“) letztendlich die Gesellschaft in kommunikatives Sprachverhalten auflöst, so will er nichtsdestoweniger den Dualismus aufheben, durch den die SymbolisierungsfĂ€higkeit des Organismus in den Traditionen der Bewusstseinsphilosophie reproduziert wird. Mead entlĂ€sst die körperliche InstrumentalitĂ€t aus der IdentitĂ€t mit einem bloß ausfĂŒhrenden Organismus und sieht die körperliche Handlung von einer durch das leibliche Merken gekennzeichneten Eigenbefindlichkeit gefĂŒhrt. Zwischen Handlung und  . . .

Habermas kennt weder ein leibliches Merken in der Eigenbefindlichkeit noch eine leibliche Vorwegnahme der Position des anderen, wie es George Mead zum Ausgang seines Symbolischen Interaktionismus nimmt, der fĂŒr den Organismus die informativen Austauschleistungen reserviert, die der Sprache vorgĂ€ngig sind. WĂ€hrend bei Mead leibliche IdentitĂ€ten und Resonanzen das Ich an ein Selbst zurĂŒckbinden, kennt Habermas nur noch das Einnehmen kommunikativer Rollen bei Sprecher und Hörer, die wegen ihrer verschiedenen Perspektiven die Individuierung vorantreiben. Das entscheidende psychische Konfliktfeld ist damit bewusstseinsphilosophisch weggeredet –   nĂ€mlich das zwischen dem Ich-förmigen Handeln durch den willkĂŒrbewusst gefĂŒhrten Körper und dem Selbstverhalten durch den Leib. 

Unser Verweis auf ein ĂŒberindividuelles Sozialganzes widerspricht der typisch deutsch- idealistischen Absicht, im anderen ein Identisch-Eigenes auszumachen, um in dieser transzendentalen Beziehung eines Ichs auf ein Fremd-Ich das Soziale ausgegeben zu sehen. Bei der soziologischen Betrachtung einer Interaktion sind aber nicht nur alle ĂŒberindividuellen KrĂ€fte und sozialen Motivationsstrukturen ausgeblendet, welche die Soziologie in ihrer BegrĂŒndung durch Durkheim erkannt, aber in der an ihn, Weber und Freud sich anlehnenden Systemtheorie durch Talcott Parsons wieder verdrĂ€ngt hat. Auch die dem Bewusstsein vorhergehenden leiblichen KohĂ€sionen und Abstoßbewegungen, die vor allem die Leibphilosophie und Anthropologie zum Thema gemacht hat, sind – wie nun bei Habermas Mead-Rezeption – weggeredet. Dort aber sind – in einem weiteren Rahmen als den Mead vorgibt – jene Befindlichkeitslagen zu thematisieren, in denen das Ich einen RĂŒckhalt in der phĂ€nomenalen Situation des sphĂ€rischen Kreises findet.

Habermas’ Begriffstrategie ist allzu konsequent. Den lebensphilosophischen Impuls lĂ€sst die Frankfurter Schule ĂŒberhaupt nur so weit zu, als er sich in die bewusste Vernunft hochziehen lĂ€sst, aber sie widerspricht ihm geradezu ignorant, wenn das Leben vermeintlich gesellschaftlich vermittlungslos, eben leibhaftig, gegen die RationalitĂ€t eingeklagt wird. Deshalb versucht sie ihren offensichtlichen Mangel, dass sie das Soziale nicht in den Blick bekommen kann, durch die Handhabung ihres anderen Defizits zu kompensieren. Indem sich ihr gesamtes anthropologisches Wissen in einer psychoana- lytisch inspirierten Kulturtheorie erschöpft, musste sie in die bundesrepublikanische Debattenkultur eine affektiv aufgeladene Scheidelinie gegen den Irrationalismus, die deutsche Leibphilosophie und alle romantische Naturbetrachtung mit ihrem esoterischen Ende ziehen.

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RĂŒckkehr der Leib-Seele-Problematik

Seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts sind die Gattungsfragen um die mensch- liche Natur durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt in der Molekularbiologie erneut auf die Tagesordnung gestellt, ohne dass die durch den ökonomischen Druck abverlangten Antworten noch einen nennenswerten RĂŒckhalt in ethischen oder sozialen Prinzipien finden. Unauflösbar krisenhaft  stellt sich der staatlich organisierte Bildungs- und Gesundheitssektor dar. Nachdem die politischen Inspirationen der Moderne erschöpft sind, bedarf es dringender denn je eines GewĂ€hrleistungsprinzips, das biologisch qualifiziert ist sowie kulturelle und menschenkundliche Inspiration dahingehend erlaubt, den Menschen gegen BemĂ€chtigungen der bereichsautonomen Organisationsapparate zu verteidigen.

Die aufgezehrten Utopien sind weder durch ein GrenzgÀngertum hin zur Esoterik noch durch transkulturelle RÀubereien zu erneuern. Stattdessen gilt es zu lernen, dass in der Natur des Menschen selbst Fundamentalkonflikte existieren, die sozial unaufhebbar sind und jeden gesellschaftskritischen Optimismus verbieten, der glaubt, Leid durch kommuni- kative Sozialtechnologien abschaffen zu können, und die dem Leben zugrunde liegenden sozialökonomischen Prozesse vergisst.

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Wenn wir von gesellschaftlichen KrĂ€ften sprechen, beziehen wir uns auf das Denken von Émile Durkheim, dem ein von der Frankfurter Schule in die Welt gesetztes und schier unbezwingbares Vorurteil des subjektlosen Positivismus anhaftet. Er aber ist es, der eine „RealitĂ€t sui generis“ des sozialen Seins konstruiert. Erst diese Denktradition - sie fĂŒhrt ĂŒber Maurice Halbwachs zu Pierre Bourdieu -, einer selbstĂ€ndigen und vermittelnden „sozialen Natur“ verspricht uns den Raum zu geben, neue emanzipative Möglichkeiten durch den Atem zu fundieren. Dabei stehen die leiblichen Innendifferenzierungen des Atems als Verarbeitung des Sozialen zur Debatte, ohne in eine Mystik zurĂŒckfallen zu mĂŒssen, der jede SozialitĂ€t abhold ist. Wenn die Gesellschaft mit Durkheim als „letzte Natur“ der Evolutionsgeschichte begriffen wird, dann kann das Soziale tiefer dort in der Leiblichkeit ausgemacht werden, wo ĂŒber den Raum der phĂ€nomenalen Situation die QualitĂ€t der sozialen Aneignung der Ă€ußeren Natur in der inneren Konfliktstruktur der menschlichen Eigennatur eine kulturelle Verlaufsform gibt. Die mit der Atemarbeit gege- benen Möglichkeiten fĂŒr das Individuum können in einer sozialgeschichtlichen Perspektive verankert werden und ihren sozialen Ort finden.

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Nach einem Jahrhundert, in dem der erste große Versuch eines materialistischen Staaten- grĂŒndungsprojektes in sich zusammenfiel, beginnt unĂŒbersehbar das Leib-Seele-Problem zurĂŒckzukehren und sofort wieder zahllose gesellschaftliche LösungsvorschlĂ€ge zu provo- zieren. Kann die anthropologische Frage im Atemthema eine geschichtlich vorwĂ€rtswei- sende Antwort finden, weil mit der westlichen Atemarbeit zwar ein belastetes Erbe besteht, aber etwas geschichtlich Neues geschaffen wurde, mit dem die anthropologisch dehn- baren Fragen des Individuums einer gesellschaftlichen Lösung zugefĂŒhrt werden können?

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