Markus Fußer Der atembewegte Leib. Über die westliche Arbeit mit der Bewegung, dem Laut und der Hand ATEMRAUM, Karlsruhe 2003
Inhalt
Vorwort
Atmen - ein geistiger Vorgang? Kardinalbeziehung der Transzendenz Weder Verstehen noch Erkennen –
Keine allgemeine Mitteilbarkeit der Empfindung Der Leib als Integrationsform Jenseits der transzendentalen Erkenntnis
Das Lampenfieber als Atemgestalt Atmen - Empfinden -Sammeln - Dasein als Atemqualität Darstellung einer Gruppenstunde
Die Bewegung im Raum Entspannung und Lösung Körperpschotherapie und Leibarbeit Leiblicher Raumbezug Die Atembewegung als Ausgangspunkt Atemregulierte Intentionalität Die Atembewegung als Körper und Leib Selbstregulation der Peripherie
Das Ich im Spannungsfeld leiblicher Regulationen Die sensitive BewegungAtemgestalt Teil und Ganzes Bewegung aus dem Atem Atemsubstanz
Der Laut als Atembewegung (115) Die beseelte Stimme Der dargestellte Laut Die Artikulation Der reine Atemlaut - Atemsubstanz
Die menschliche Begegnung in der Atembehandlung Berühren als ein Antreffen und Aufrufen Der Gestaltkreis in der Behandlung
Das gemeinsame Dritte von Körper und Seele Unterhalb des reflektierenden Bewusstseins Das Atemgespräch als Resonanzbeziehung Das Ich und der Andere
Bibliographie
Buchvorstellung
Kardinalbeziehung der Transzendenz
Die westlichen Atemarbeiten legen nahe, in der Atembewegung ein inniges, keineswegs zufälliges Verhältnis zur individuellen Expression, zum
gefühlsmäßigen Erleben, zur erkennenden Wahrnehmung und zum entscheidenden Bewusstsein zu sehen. Sie stellen die Aufgabe, überhaupt das persönliche Dasein aus dem biologischen Organisationsprinzip Atembewegung
zu begreifen. Deren erfahrungsgestützte und kaum theoretisch-begrifflich reflektierte Auffassung, nach der Denken und Entscheiden, Bewusstsein und Wahrnehmen, Gefühle und Empfindungen von der Atembewegung
abhängig sind, läuft zunächst den gewöhnlichen Vorstellungen zuwider.
Allzu offensichtlich entwickelt der nachhaltig am Atem Übende seine individuellen Kräfte, ihm wächst eine persönliche Ausdrucksfähigkeit zu und
er erlebt seine Wandelbarkeit bis in tiefste Gewohnheiten hinein, die allgemein für unveränderbar gehalten werden. Es erscheint unfassbar, dass ein einziger Atemzug eine Einstellung verändert, ein Problem in die
Nichtexistenz auflöst oder eine unentschiedene Situation klärt. Ein unwillkürlicher Atemfluss, an dem der Übende mit seinem Sammlungsbewusstsein teilhat, vermag biografisch tief sitzende Verhaltensdispositionen
aufzulösen. Es können durch das Üben am Atem die Uneindeutigkeiten und die sich widersprechenden Alternativen blitzartig verfliegen, mit denen sich ein am Atem Übender rumplagt, wenn er keine Entscheidung
treffen kann. Eine sich im Dialog der Atembehandlung von innen bildende Atembewegung kann eine bestimmte Klarheit entstehen lassen, die ohne Wenn und Aber zum stimmigen Verhalten treibt. Nicht eine Erkenntnis jedoch
ist das Ausschlaggebende, sondern ein verändertes Abstimmungsverhalten der Person in der Welt, deren pathisches Erschließungsorgan der atembewegte Leib ist.
Für ein derartiges Begreifen des Atems erscheinen zunächst alle unmittelbaren Zugänge verdeckt. Solche waren wohl in mythischen Weltauffassungen
vorhanden und prägen heutzutage allenfalls esoterisch gepflegte Ordnungsvorstellungen. In einer wissenschaftlich durchdrungenen Zivilisation scheint man auf das Atmen als Kardinalbeziehung der Transzendenz
allenfalls noch in einem religiösen Verständnis rekurrieren zu können, wenn man sich nicht der Gefahr einer bodenlosen Innerlichkeit und dem leidigen Flüchten vor der Welt aussetzen will. Die abendländische
Philosophie hat in ihrem Rationalitätsverständnis von einem den Körper transzendierenden Geist den Bezug zum Atem, der eigentlichen Selbstbewegung, aufgegeben. Darin unterscheidet sie sich von östlichen
Traditionen. So fehlen die Denkmittel für einen methodischen Atheismus, der sich vorzustellen vermag, dass allein durch pure Atemempfindungen, deren stilles Erleben etwa der Erfahrbare Atem von Ilse Middendorf
einzigartig unterrichtet, tiefste Veränderungen der Person und des eigenen Daseins bewirkt werden beziehungsweise ein Wandel der Seele und des Bewusstseins stattfinden können.
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Keine allgemeine Mitteilbarkeit durch die Empfindung
Der Gegenstand Atemerfahrungen ist sperrig, weil mit ihm nicht das verstehende Deuten gemeint ist und
damit der Erfahrbare Atem die Themen der bekannten Verfahren übersteigt, nach denen sich in sprachlicher Vermittlung dem Innern zuzuwenden ist. Vielmehr soll ohne Deutung und Interpretation, überhaupt ohne die
geringste Erkenntnisabsicht dadurch ein Selbstwandel der Person herbeigeführt werden, dass diese nur bei den Spannungsempfindungen anwesend ist, die beim Atmen entstehen. Gegenüber der Wahrheit der
Erkenntnis und selbst den Ansprüchen des Deutens in der hermeneutischen Situation wird auf eine Erfahrungsgewissheit in der arationalen Empfindung der Atembewegung gesetzt, über die ein anderer weder
urteilen noch über welche man als solche diskutieren kann. Die Paradoxie, welche uns die middendorfsche Atemarbeit aufgibt, könnte nicht größer sein: Der Atem soll ein geistiger Vorgang, aber nicht durch das
Denken aufschließbar sein. Es erscheint geradezu abwegig, im Atmen einen geistigen Vorgang sehen zu wollen, nachdem dieses Geistige im Erfahrbaren Atem lediglich durch Sammeln und Empfinden
aufgeschlossen werden soll.
Der vorurteilende Verdacht liegt trotz unserer Ãœberlegungen auf der Hand, dass dieses Subjekt ein
metaphysisches oder gar mystisch-magisches ist. Jedenfalls erscheinen derartige Postulate gegenüber der klassischen Philosophie eines Immanuel Kant unerhört. Gegensätzlicher gegenüber dessen
transzendentaler Erkenntnistheorie, aber auch gegenüber der klassischen Neubegründung der Ontologie durch Georg Wilhelm Friedrich Hegel, die allen unmittelbaren Sensualismus ins Reich der Illusionen
verwiesen haben, könnte dieses Verfahren nicht stehen, das auf die Bedeutung von Sinneserscheinungen in der Atembewegung verweist, die unableitbar und nicht mehr weiter reduzierbar sind. Empfindungen stehen
derart für sich, dass man, wenn man sie hat, keine Erkenntnis gewinnt. Mit ihnen kann nur das Unmittelbare und nicht das Vermittelte eingeklagt werden. Darin unterscheiden sich Empfindungen von
Wahrnehmungen, die etwas als etwas erkennen und wegen dieser Wertungsfähigkeit von einer spezifischen Bedeutung einer Empfindung überzeugt sind.
. . .
Der Erfahrbare Atem stellt die für das transzendentale Subjekt oder für die Seinslehre der klassischen
Philosophie unstatthafte Frage nach der Identität von Atemempfindungen mit den Zuständen der Gewahrsamkeit. Er gerät darüber hinaus in den Gegensatz zu den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen
der Physiologie seit Helmholtz, die der Philosophie das Deutungsrecht absprechen und ebenfalls wie die klassische Philosophie verlangen, einen Schnitt zwischen Empfindung und Wahrnehmung vorzunehmen.
Aber gerade aus diesen Problemstellungen entwickelten sich die entscheidenden philosophischen Fragen seit der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert.
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Dasein als Atemqualität
Zunächst mag es seltsam erscheinen, dass sich Atemübungen an einem menschenkundlichen Thema
orientieren und dabei nicht die symbolischen Kennungen gemeint sein sollen, die aus dem asiatischen Kulturkreis übermittelt sind. Ebenso wenig wird mit Imaginationen gearbeitet, mit denen gleichfalls ein
Bewusstseinsinhalt in den Atem hineingelockt werden könnte. Da die middendorfsche Atemerfahrung auf den unwillkürlichen Atemfluss beziehungsweise die Freisetzung des Eigenrhythmus abzielt, soll weder die
Atembewegung geführt noch in sie etwas hineingedacht werden. Das Atemthema gebiert sich allein aus einer gesetzmäßig empfindbaren Atemgestalt. Und diese ist gegenüber seelisch-geistigen Inhalten
neutralisiert und gegenüber den wissenschaftlich exakt erkundeten Gesetzen des Körpers und der Seele indifferent.
Besprechen wir diesen Sachverhalt beispielhaft bezüglich der Atemweise des Lampenfiebers, das entsteht,
wenn sich eine Person in einer neuen Situation bewähren muss. Obgleich wir dieses meist nur kurz erleben, ist es dennoch der Prototyp eines Daseins, das mit emphatischem Nachdruck auch Existenz
genannt werden kann. Lampenfieber ist eine Grundbewegtheit, die sich in einem bestimmten energetischen Atemgefüge zeigt dem Peripherie-Atem als ein an den Körperwänden wahrnehmbares kurzes Schwingen.
Das Lampenfieber entspringt keinem seelischen Defekt. Vielmehr ist es eine positiv zu begreifende
Erregung, die es auszuhalten gilt. Dies gelingt nicht jedem. Manchem entgleist das Lampenfieber sogar in Funktionsstörungen. Ihn schwindelt vielleicht und er fällt sogar in Ohnmacht, weil ihm die sensorische
Orientierung im Raum schließlich völlig verloren gegangen ist. Beim Schwindelig-werden zerfällt das von der
Atembewegung unterhaltene Spannungsgefüge des „In-der-Welt-Seins“ und „kurz vorm Umfallen“ sucht sich die Person durch eine Muskelspannung an der Wirbelsäule einen letzten Halt, um überhaupt noch als Ich
vital-senosorisch im Raum anwesend sein zu können.
Wenn sich eine Person wegen einer herannahenden Situation, in der sie erscheinen, auftreten, vortreten
oder standhalten soll, psychisch flüchtend verhält, hat sie sich aus der Lampenfiebersituation entlassen, weil sie sich fürchtet. Sie hat ihre Spannung im Raum aufgegeben, denn sie konnte nicht mehr ihre eigene
Körperperipherie besetzt halten und hat sich sensorisch nach innen zurückgezogen. Die äußeren Muskelschichten werden in diesem Fall unterspannt und der Atem dünn. Er schwingt nicht mehr wie bei
einer ausgehaltenen Lampenfiebersituation an der ganzen Körperumrandung in kurzer Frequenz hin und her, sondern zittert fast nur noch am Brustbein. An der Atembewegung wird ablesbar, dass aus dem
Existential Lampenfieber das der Angst geworden ist. Andere überspielen die Daseinslage des Lampenfiebers durch Abwehr. Die Körperkontur wird hart und der Atem bläht sich in der Brust auf.
Vergleichen wir die Atembewegung des Lampenfiebers noch deutlicher mit der der Angst. . . .
. . .
Die Lampenfiebererregung kann man psychologisch deuten oder auch physiologisch messen. Wir begreifen
sie als eine biologische Realität, mittels der sich auf eine nahende Situation eingestellt wird, in der sich die
Person unabdingbar zeigen muss, in der nicht mehr kontrollierbar sein wird, was von innen freigegeben oder von außen empfangen werden kann. Lampenfieber ist der Erregungszustand, in dem sich auf das
Ungewisse vorbereitet wird und in der entschieden wird, ob es auch gelingt, mit der Person unübersehbar präsent zu sein.
Mit dem Peripherie-Atem, der das Lampenfieber trägt, ist eine Atemweise gemeint, in der wir keinen
bestimmten seelisch-geistigen Inhalt identifizieren können. Diesem gegenüber sind Atemgestalten neutral. Auch das Neugeborene beginnt mit dem Peripherie-Atem, der ihm die erste Luftfüllung einschwingt, bis es
die Luft mit jenem ersten Schrei entlässt, durch den es seine Geburt vollendet und als Subjekt aus sich heraustritt. Der zufrieden Sterbende scheidet mit diesem kurzen pausenlosen Ausschwingen. Entsteht
während der Atembehandlung ein Peripherie-Atem, findet eine menschliche Begegnung statt, durch die sich die Person wandelt.
In dieser kurzfrequenten Atemweise kann sich die gesamte Dramatik des Lebens ausdrücken. Der
Peripherie-Atem kann uns überdies helfen, als Person in der Wahrnehmung einer Rolle durchzuscheinen und einen Sprung zur Selbstentfaltung vorzubereiten, durch die das Eigene mit dem Fremden abstimmbar
wird. Diese Atemqualität der abstimmenden Vorbereitung einer kohärenten Verschränkung von Innen und Außen kann deshalb auch eine tiefer gehende Wandlung der Person einleiten, die eine Not überwinden
kann, nachdem die bisherige Atem- Lebensweise an ihre Grenzen geraten ist. Besonders in der energetischen Strukturqualität des Peripherie-Atem offenbart sich die middendorfsche Atemerfahrung in
ihrem Transzendenzcharakter . ...............
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Darstellung einer Gruppenstunde
Nachdem wir im Rahmen eines Sommerkurses „Atmen - Stimme - Interpretation“ mit Sängern und Lied-
pianisten eine knappe Woche täglich eine Stunde am Atem geübt hatten, sollte das Abschlusskonzert stattfinden. Zuvor galt es in unserer letzten Gruppenstunde auf jene Spannungsdynamik in der Atembe-
wegung vorzubereiten, die beim Lampenfieber entsteht. Das mit ihm verbundene Atemthema Peripherie- Atem zielt auf die Stabilität der leiblichen Atemraumgrenzen, damit das Sich-Stellen besser gelingt und
nicht in die möglichen Tonusextreme, die Flucht oder die Abwehr, ausgewichen wird. Stellen wir den Aufbau dieser Übungseinheit vor, um einen einfachen Einblick in die Systematik der middendorfschen Arbeitsweise
mit sensitiven Bewegungen und Vokalräumen zu geben.
Mit unserem Versuch, eine Unterrichtseinheit zu beschreiben, kommen wir rasch an Grenzen der Weiter-
gabe. Das ums Verstehen sich bemühende Wort wird unzureichend, weil wir des Übungssinns eigentlich nur in dessen leiblichem Charakter gewiss werden, wenn wir ihn selbst erfahren. Und selbst der beschrie-
benen Übung mangelt die Anleitung durch die pathische Verarbeitung des geschauten Bewegungsbildes, mit dem der Atemlehrer eine Arbeitsweise darstellt. Und überhaupt fehlt der in der Gruppe sich entwickeln-
de sphärische Charakter, der einer Übungssituation als sensorische Raumstimmung vorhergeht, und Atem- schüler immer sagen lässt, dass das Üben zuhause nicht so intensiv sei.
Wegen dieser Gründe hat Ilse Middendorf nur eine Atemlehre, aber kein Lehr- und Übungsbuch vorgelegt.
Wir fordern den Leser ausdrücklich auf, die vorgestellten Übungen nicht als Anleitung zu einem Atemexer-
zizium auszuprobieren. Er würde sich, da er die Komplexität der Übung über die Schriftsprache nur außerst
reduktiv aufnehmen könnte und dadurch auf den Willensaspekt der Bewegung zentriert wäre, nur Eindrücke verschaffen, die das Wesen der Sache, nämlich den Erfüllungscharakter der empfundenen Atembewegung,
in einer bestimmten, hier nun im Rahmen eines Kurses mit Sängern und Liedpianisten sich entwickelnden pädagogisch-therapeutischen Situation verstellen.
Unweigerlich würde er beim technischen Ausführen von Bewegungsvollzügen landen, mit denen er mit-
nichten einlösen kann, worauf es eigentlich ankommt: Das beschauliche Einlassen auf die eigene Leib- lichkeit kommt uns aber nur aus dem Eindruck der gelösten Erfahrung zu. Kurzum Es bedarf der nach-
haltigen Begleitung durch einen Atemlehrer, die derart unterstützt, dass der Atemschüler nicht überlegt, wie er es zu machen hat, sondern schaut, ganzheitlich aufnimmt und seine eigene Bewegung ausprobiert sowie
sich den Bewegungsimpulsen überlässt, weil er sich zur Mimese der vom Atemlehrer gezeigten Bewegung „animiert“ fühlt.
Noch eine weitere Bedingung der Atemarbeit ist vorneweg vorzustellen Gegenüber vielen Körperarbeiten, die
auf dem Boden liegend arbeiten, fällt bei der Middendorfarbeit auf, dass in aufgerichteter Haltung auf einem Hocker gesessen wird. Der Hocker wird zum Sinnbild eines Übungsanliegens, das durch alle Arbeits-
schritte hindurch erinnert, dass die Person in ihrer leiblichen Verflechtung an Schwerkraftreize gebunden ist. Der Unterschied zum Lotussitz ist eklatant. Die Aufrichtung in dieser Meditationsform wird qua Sitz mit
seinem abgesenkten Schwerkraftpunkt geradezu erzwungen, während beim Sitzen auf dem Hocker die Aufrichtung eine personale Haltungsleistung ist.
Der Hocker sollte dem Übenden angepasst sein. Dieser darf weder zu tief sitzen, damit die Leisten geöffnet
bleiben und nicht abgeknickt werden. Der Hocker darf auch nicht zuviel Höhe geben. Denn die Füße sollen am Boden haften und nicht tendenziell von ihm weggezogen sein. Eine individuell gerechte Sitzhöhe
gestattet, das Körpergewicht auf diesen beiden Ebenen, Boden und Hocker abzugeben und dadurch eine optimale Spannungsverteilung der Muskulatur zu erzielen. Sie fördert außerdem das gute Aufgerichtet-sein.
Sitzt der Übende zu tief, sinkt der Schultergürtel ein und die Atembewegung staut sich leicht im Becken auf. Die Wachheit wird abgedämpft und die Ausrichtung der Aufmerksamkeit irritiert. Umgekehrt erhält beim
Zu-hoch-sitzen die Atembewegung einen Zug vom Kopf her und reduziert die erdende Vitalitätsverankerung der Atembewegung im Becken und den Beinen.
Die Grundformel des Erfahrbaren Atems als ein inneres Gleichgewicht zwischen Atmen-Empfinden- Sam-
meln als personales Geschehen einzulösen, dient auch eine weitere Besonderheit, die wir in der Midden- dorfarbeit ansprechen. So wenig wie man liegt und stattdessen sitzt, sowenig beherrscht der Atemlehrer
durch einen verbalen Dirigismus das Feld. Er gibt Hilfen, deren Charakter partnerschaftlich annehmend und nicht paternalistisch anordnend angelegt ist. Der Übende soll die Verfügung über sich behalten, denn nur
dann vermag er sich als Person in sein Atemgeschehen hineinzugeben. Da ein Anschluss an die Unwill- kürlichkeit gesucht wird, ergeben sich für die middendorfsche Arbeit am Atem außergewöhnliche Bedin-
gungen eines zwar behutsamens, aber deutlichen Verhaltens.
. . .
Vorbereitung: Das genüssliche Dehnen
Begonnen wird eine Atemstunde mit einem genüsslichen Dehnen. Kreatürlich rundgedehnt und geweitet,
werden wir wacher, weil wir besser gespannt sind. Das Dehnen hilft uns, einen Bereitschaftstonus aufzubauen, der von einer gegenüber der Ruheatmung angehobenen und gegenüber dem Angespanntsein
abgesenkten Grundspannung lebt. In der Ruheatmung hängt die Atembewegung vor allem im Bauch, während die Aufgeregtheit durch einen Hochatem begleitet wird, der über dem Zwerchfell einsetzt.
Erster Arbeitsschritt: Verlebendigung des Rückens
Eine weitere atemanregende Übung schließt sich an. Wir nennen sie Lokomotive. Bei bei dieser gymnastisch anmutenden Arbeitsweise wird
– analog der Kolbenbewegung für die Übertragung des Dampfantriebs – wechselseitig versetzt je eine Körperseite ausgreifend nach vorne verschoben, um sich vor
allem passiv in die Rückseite zu dehnen.
Vom Sitz weg geht eine Ferse nach vorne in den Raum, wobei das Bein und die Körperseite mitgezogen
werden. Die Ferse führt bei dieser Bewegung, weil das Bein nicht aktiv ausgestreckt werden darf, denn sonst würden um das Knie Muskelkontraktionen erzeugt, wo jedoch passive Dehneffekte hervorgerufen
werden sollten. Indem die Ferse vom Körper weggeht und zugleich die Zehen zum Schienbein hingehen, werden die gelenkübergreifenden Muskelstränge der Rückseite des Beines und des Rumpfs sowie der
Arme gedehnt, wenn sich außerdem der Kopf nach vorne neigt und die Hand sowie der Arm derselben Körperseite gleichfalls mit in diese Bewegung hineingenommen werden. Auf der Ellenbogenseite wird dabei
der Arm seitlich in den Raum hinausgeweitet und die zugleich nach vorne verdrehte Hand öffnet sich mit ihrer Innenfläche zum Raum hin., wobei die Finger auseinander gleiten und sich nicht kontahierend
aufgespreizen, wenn die Hand von ihrer Mitte aus aufgedehnt wird.
Der Sinn dieser Übung ist, von den Füßen über den Rücken bis zu den Händen durchgehende
Muskelketten wechselseitig aufzudehnen. Durch das wiederholte und beschauliche Ausführen ergibt sich die Chance, dass muskuläre Lösungen entstehen, wodurch die Atembewegung besser durchfließen kann.
Indem die gesamte Rückseite durch das wechselseitige Aufdehnen der beiden Körperseiten verlebendigt wird, kann sich die Person besser in ihrer Raumlage ausweiten. Ist das Verhalten in den sensorischen
Hintergrundraum aufgeweckt, kann aus dem kollektiven Rahmen heraus- und sicher nach vorne getreten werden, um sich als Person zu zeigen und auszustrahlen.
Das damit angesprochene Hintergrundthema könnte ebenfalls Gegenstand einer Atemstunde mit einem
eigenen Übungsreigen sein und war auch eines in einer der vorhergehenden Gruppensitzungen gewesen. Wir hatten auch noch an Raumpräsenzen vermittels der Vokalraumarbeit sowie an der Ichkraft gearbeitet.
Diese Themen sind genauso subtil im Reich der Spannungsenergien der Atembewegung und mit verschiedenen Arbeitsschritten zu erarbeiten wie unser hier zu verfolgendes Thema Peripherie-Atem. Wir
deuten die Gestaltthematik des Hintergrundsraumes an, um eine Ahnung davon zu unterstützen, dass mit dem Handwerkszeug, das Ilse Middendorf zur Verfügung gestellt hat, menschenkundlich differenziert in
energetische Bewegungsschichten des Atemleibes hineingearbeitet werden kann.
Mit Atemhintergrund leben wir sensorisch in den vitalen Bewegungsraum hinter uns hinein. Der
Atemhintergrund hat zunächst eine nur statische Dimension. Er ist rückwärtige Ausdehung als lagetonische Verankerung in der Schwerkraft, ohne die wir überhaupt nicht im Raum als Person anwesend
sein könnten und all unser Tun und Lassen von Furcht getrieben wäre.
Wir haben den Rücken frei und können uns reflexionslos in eine Situation einlassen. Alles, was wir tun, ist
selbstverständlich. Das nicht zu Besprechende und nicht zu Reflektierende ist im Hintergrundraum des Atems atmosphärisch gebunden. Atemhintergrund spendet jene unabdingbare Sicherheit, damit wir nicht
nur gelassen als darstellender Künstler vortreten können, um den Raum mit unserer Person stimmen und füllen.
Zweiter Arbeitsschritt: Kreisen der Fußränder.
Den beiden Eingangsübungen folgt ein spürsames Kreisen der Fußränder. Wir sitzen dabei und wenden
uns zunächst einem Fuß zu. Das Kreisen ist zugleich ein Drücken, das uns die Ränder des Fußes, die Innen- und Außenseite, die Fersenkante sowie die Fußzehbeeren in die Empfindung bringt. Wir beginnen
zunächst mit einer großen Bewegung und einem starken Druck, um später sachter zu werden und zu einer belauschten Druckverlagerung zu kommen. Dabei liegt der Fuß als Ganzes auf. Und wir schließen mit einer
Kontaktsuche zum Boden, bei der wir uns das Umkreisen gar nur noch vorstellen. Die sensitive Beschaubarkeit unserer Bewegung wird bereichert, indem wir die Richtung des Kreisens verändern.
Bei einem unterspannten Fuß kann sich nach gelungener Übung deutlich dessen Kontur aufdrängen. Er
wird gut auf dem Boden liegen und ein eventuell vorher vorhandenes Empfinden des Eingesunkenseins ist wegen des erreichten Spannungsausgleiches verschwunden. Ein zu fester Fuß würde dagegen weicher
werden und um ihn herum könnte sich vielleicht ein deutliches Spürfeld aufbauen. Wenn bei dieser schlichten Arbeit außergewöhnlich viel Unterspannung angehoben werden kann oder die Spannung
verhärteter Sehnen abzufließen vermag, können wir vielleicht die Füße empfinden, als würden sie in riesengroßen Latschen stecken. Manchmal werden sie nach dem Abbau einer übermäßigen Spannung
heiß. Kälteempfindungen stellen sich dagegen ein, wenn Unterspannungen gebunden werden.
Je subtiler wir arbeiten und je durchlässiger und empfindungsbewusster wir für die am Fuß angesetzte und
nach oben fortpflanzende Bewegung sowie die beim Nachspüren durchlaufende Atembewegung sind, desto mehr können wir davon überrascht werden, wie durch eine solche Arbeit Leibflächen und Atemräume im
Rumpf aufgeweckt werden. Die Arbeit an einem Punkt beeinflusst das Ganze, weil energetische Korresondenzen von einem Teil zum anderen existieren.
Wird die Fußaußenkante belastet, kann sich bei vorhandener Durchlässigkeit für die Atembewegung die
Flanke derselben Seite melden. Wird die Ferse an die Unterlage geschmiegt, aktiviert sich der Einatem im Becken, und küsst z. B. der große Zeh den Boden, so energetisiert sich der Kopf. Der Druck der
aufgestellten Vorderzehballen aktiviert den Schultergürtel durch verlängerten Einatem und der nachhaltige Fersendruck auf den Boden kann besonders dann eine Ausatemverlängerung hervorrufen, wenn gleichzeitig
der Lendenwirbelbereich etwas nach hinten aufgedehnt wird.
Das Drücken der Fußränder aktiviert außerdem die Atembewegung in der Gegend um das Zwerchfell: im
mittleren Atemraum zwischen Brustbein und Bauchnabel – zum unteren gehören das Becken und die Beine, zum oberen Schultergürtel, Kopf und Arme – kann die Atembewegung dichter werden. Die Füße
sind wie die Knie und der Beckenboden Antipoden zur Zwerchfellbewegung, die innerhalb synergetischer und antagonistischer Spannungsverhältnisse der Muskulatur des gesamten Leibes stattfindet und deren
Qualität von fein ziselierten biologischen Leistungen der Person in der Bewegung und dem Ausdruck sowie
der Artikulation abhängt. Durch den besser gespannten Kontakt der Füße gegenüber dem Boden profitiert auch die obere Spannungsebene Schultergürtel. Dieser trägt bei guter Gegenspannung zu den Füßen und
zum Zwerchfell den Kopf.
Der mittlere Atemraum korrespondiert atemenergetisch auch mit der Mitte der Hände und den
Fingerkuppen des Mittelfingers sowie den Knien, den Augen, den Ohren sowie dem mittleren Nasenmuschelpaar. Die Bewegung im mittleren Raum integriert die Dynamiken unterhalb und oberhalb des
Zwerchfells. Atem im mittleren Raum spendet Ruhe und Gelassenheit. Wenn dieser Raum mit Bewegung gefüllt ist, antwortet der Mensch mit einem klaren Ja oder Nein. Er ist ichstark
Die angedeutete Möglichkeit der Korrespondenzen kann bereits eine Ahnung von den netzwerkartigen
Verknüpfungen geben, die durch die middendorfsche Atemarbeit mit einer erstaunlichen Präzision erschlossen werden. Da es keinen Körperteil gibt, der sich nur lokal artikuliert, können durch
Einflussnahme an einer Stelle oder Leibpartie gesetzmäßig reflektorische Veränderungen in anderen Regionen hervorgerufen werden. Überhaupt bildet sich – wie beispielhaft vorgestellt – im Fußes die gesamte
energetische Atemdynamik ab, die ihren wesentlichen Bezug in der Gravitationswirkung beziehungsweise in der von dieser abhängigen Zentrifugalkraft hat.
Die middendorfsche Atemerfahrung kennt viele derartige energetische Korrespondenzen. Das Kinn, das
Becken, die Fersen und die Handballen korrespondieren energetisch ebenso miteinander wie die Vorderzehballen des Fußes, die Fingergrundgelenke der Hände, der Schultergürtel und die Stirn. Stellen wir
noch ein weiteres Beispiel einer Fußkorrespondenz vor: Ein Druck auf die Fußinnenseite aktiviert eine Empfindungsröhre, die sich vom Beckenboden bis in den Kopf hinzieht. Sie stellt ein Empfindungsintegral
der Atemschwingungen der Leibwände nach innen dar. Sie kann übrigens auch durch die Arbeit mit dem „R“ erarbeitet werden.
Die Ohren und die Augen haben einen Bezug zum mittleren Atemraum. Die Dreierteilung der
Nasenmuschelpaare korrespondiert mit den Atemräumen im Rumpf. Die beiden oberen Naselmuscheln stehen in energetischer Beziehung zu dem oberen Atemraum im Schultergürtel, den Armen und dem
gesamten Kopf, das mittlere mit dem mittleren Atemraum zwischen Brustbein und Bauchnabel und das untere mit dem unteren Atemraum, zu dem das Becken und die Beine gehören. Ein Druck auf die
entsprechende Korrespondenzstelle im Fuß kann deshalb eine verstopfte Nase freimachen.
Auch die Zungen- und Mundstellung beim Sprechen von Vokalen und Konsonanten setzt sich im Rumpfs
fort, weil über die Atembewegung sich die Bewegung der Sprachmuskulatur als Spannungsmodalität im Rumpf artikuliert. Es bilden sich zelluläre Energiezustände in gesetzmäßig umrissenen Leibpartien aus, die
in einer eigenständigen Arbeit mit dem Laut aktiviert werden und ihm entsprechende Grundstimmungen tragen.
Wir werden hierauf noch zurückkommen, wenn wir den Arbeitsschritt mit dem Vokal „A“ besprechen. Hier
interessiert, dass wir mit einfachen Fußarbeiten uns deshalb selbst aufwecken können, weil wir auch andere Körperbereiche ansprechen, deren Anregung in der zu erarbeitenden Atemgestalt leiblich gebunden wird.
3. Arbeitsschritt: Sitzhöckerkreisen
Die nächste Übung ist wieder ein spürsames Kreisen – nunmehr um die Sitzhöcker. Mit ihr wollen wir die
meist nötige Atembewegung in den Vitalgrund locken, um Spannungsungleichgewichte im Verhältnis zwischen Beckenbodens und Zwerchfell aufheben. Der Beckenboden ist der Antipode des Zwerchfells und
wird deshalb auch Beckenzwerchfell genannt. Ist er zu hart, wird die Atembewegung zurückgekickt, dem Becken fehlt Einatemraum und es entsteht die Neigung zum hektischen Atmen. Bei einem unterspannten
Beckenboden versackt die Ausatembewegung, der Ausatem ist spannungslos und die Person kommt nur schwer in die Gänge.
Nach jeder Übung wird dem Angeregten nachgespürt, um der Atembewegung Gelegenheit zu geben, sich
von innen her zu entwickeln. Denn soweit eine willentlich gesetzte Bewegung die Atembewegung hervorruft, interessiert sie nur, als sie gezielt eine bestimmte Leibpartie aufwecken kann. Das Nachspüren nach der
spürsam und langsam ausgeführten Bewegung reicht aber weiter und wir nähern uns mit ihm dem Eigentlichen: den Wechsel von der äußeren Einflussnahme zur inneren Entwicklung, an der die Person mit
ihrer Sammlung beteiligt ist. Bei Atemerfahrungen steht das Ich vor der Aufgabe, sich zunächst seine unbewussten Anteile als Atemerfahrung bekannt zu machen.
Auch für diesen Sachverhalt ist zwischen Körper und Leib zu unterscheiden, die keine zweierlei Materialen
sind, aber unterschiedliche Beziehungen in einer Einheit darstellen. Der Körper ist zweckhaft und darin dem Willen verfügbar. Mit Leib ist eine Relation von Innen und Außen gemeint, die das Befinden im Raum
konstituiert und aus der das Sinnhafte und Personenbezogene hervorgehen. Die Körperlichkeit einer Bewegung kann man nach den naturwissenschaftlichen Gesetzen untersuchen. Ihre Leiblichkeit zeigt uns,
wie sie aussieht. Leiblichkeit bezieht sich auf die qualitiven Aspekte der menschlichen Natur, die anschaubar, aber nicht berechenbar und messbar sind.
Das Ich der willentlichen Körperhandlung stößt bei der sensitiven Ausführung auf diesen seinen Rückhalt im
leiblichen „Sein im Raum“ (Martin Heidegger). Bei der sensitiven Bewegung ist das Ich nicht mehr wie bei der Normalbewegung in der Alltagshandlung distanziert gegenüber seinem Körper, sondern fügt jene
spürsam in das leibliche Spannungsgefüge ein. Der Leib kann den absichtlichen Körperbewegungen widersprechen, doch im gerichteten Akt der Aufmerksamkeit existiert auch die Gelegenheit zu dessen Eutonisierung.
Das Eindringen des Bewusstseins in die impulshafte Leiblichkeit und die Möglichkeit, den Körper in den
Leib einzuschmiegen, hat ein zeitliches Fenster, innerhalb dessen sich auch die Atembewegung von innen heraus zu entwickeln beginnt: Es ist der Moment, in welchem sich der Nervenreiz allein an dem
Reflexbogen zwischen Peripherie und spinalem Zentrum im Rückenmark abspielt und dieser noch nicht hoch zum Kopf geleitet ist. Die zeitliche Differenz zwischen Eigen- und Fremdreflex ist gemeint. Erster
spielt sich ohne, letzterer mit der Beteiligung des Gehirns ab.
Dieser Balanceakt zwischen Körperhaben und Leibsein wird durch die Anlage sensitiver
Bewegungsübungen und die Ansprache des Atempädagogen gestützt. Ein methodisch unqualifiziertes Hineinhorchen wird den unerhört empfindlichen Atem nur stören und es droht die Gefahr, positive
Spannngen im leidigen Selbstfühlen zu zerrütten. Unbewusste Absichten, Vorstellungen wie der Atem zu sein hat, können sich vor seinen unwillkürlichen Fluss stellen. Das Bewusstsein kann den Eigenrhythmus
durch angestrengte Aufmerksamkeit unterdrücken, das Empfinden der Atembewegung verlieren und in Gedankenstürme kommen.
Die gesamte Ãœbungsanlage in der Middendorfarbeit hat den Sinn, diesem heiklen Problem der
Selbststörung des Atems durch die Selbstzuwendung zu begegnen. Wegen der Empfindlichkeit des Atems für jeden Eindruck und Ausdruck sowie die Bindung des Bewusstseins an die Atembewegung wirkt bereits
die geringste Aufmerksamkeit auf den Atem. Dieses Problem der Störbakeit ist durch den Prozess des Übens hindurch aufzuheben und hinter sich gelassen, wenn die gesammelte Präsenz nicht mehr dem Atem
äußerlich gegenübersteht und im unwillkürlichen Atemfluss eingelassen ist. Wenn die Atembewegung das Sammlungsbewusstsein einschließt, gewinnt er mittels seiner Lösungskraft Substanz.
Dieser Vorgang wird als untrüglich schön erfahren. Wirkliche Atemkraft entsteht – dies ist das
erfahrungsgesättigte Credo der Atemlehre von Ilse Middendorf – durch eine gesammelte Atemweise. Sie ist eine dritte Atemform, nämlich Erfahrbarer Atem, gegenüber dem Einsatz von Atemtechniken und dem
unwillkürlichen Atemfluss, der unbewusst bleibt.
4. Arbeitsschritt: Umkreisen der Peripherie
Obgleich das Kreisen immer ein horizontales Ausdehnen ist, verankern wir uns mit den letzten beiden
Übungsschritten zugleich in der vertikalen Spannungsdynamik, damit wir besser unsere Haltung in der Aufrichtung behaupten können. Dieses „Geerdetsein“ erweitert die Schwingungsfähigkeit des Zwerchfells
und wirkt dem ängstlichen Festmachen im Schultergürtel entgegen. Überhaupt ist - wie im Zusammenhang mit dem energetischen Fußfeld aufgewiesen - die Atembewegung wie aller Muskelsinn ein Widerhall davon,
in welcher Weise wir uns gegen die Schwerkraft und ihre Abart, die Fliehkraft behaupten.
Wir stützen, was lebendig geworden ist und vertiefen das Erarbeitete, indem wir schließlich in den Stand
kommen, um völlig aufgerichtet um die Fußränder zu kreisen. Im Grunde verlagen wir nur noch spürsam das Schwergewicht oder wir Schwingen um den Schwerpunkt, wobei die Bewegung von den Füßen
ausgeht, Beine, Becken und Schulter sich nur leicht mitzubewegen, so dass sie nicht das Kreisen beziehungsweise die Schwergewichtsverlagerung führen. Während die Bewegungsweise des Kreisens im
Grunde gleich bleibt, verändern wir die Ausrichtung unserer Aufmerksamkeit. Unser inneres Auge wandert ebenfalls umkreisend an der Körperkontur von unten nach oben. Diese Vergewissern der Körperwände setzt
an den Fußrändern an und bezieht über die Waden, die Knie und die Oberschenkel sowie den Rumpf auch den Kopf und die Arme mit ein. So verfolgen wir mit unserer Anwesenheit, wie das Umschwingen wirkt und
uns die Körperkontur empfindungsbewusster werden lässt.
Beim Nachspüren bleiben wir auf die Körperkontur gesammelt. Nun kann ein kurzes Schwingen an der
Peripherie entstehen. Ist uns die physikalische Grenze empfindungsbewusst geworden, so werden wir unterscheidungsfähig für das Verschieben der leiblichen Grenze, die im günstigen Falle jene
transssensische Relation ist, durch die wir das Innen mit dem Außen kohärent verschränken. In diesem Verhälnis von Körperaspekt und Leibaspekt können wir weiterhin die Aufgabe des eigenen Körperraumes
identifizieren, wenn die leibliche Grenze nicht über die Körperkontur hinausführt und sie hinter diese sensorisch zurückgenommen ist. Atemraumarbeit ist zunächst eine leibliche Inbesitznahme des eigenen
Körpers, indem inegale Spannungsverhältnisse ausgeglichen werden.
Die leichte Schwerpunktverlagerung beim Fußkreisen provoziert Druckimpulse, welche wie passive
Dehnungen Atem hervorrufen. Da diese kreisende Bewegungsweise mit der aufwärts gehenden Sammlung zugleich ein sachtes Hinneigen der Peripherie in den Außenraum ist, werden Atemantriebe in die
Körperwand gelockt. Durch das anlehnende Hindehnen in den Umraum können vorhandene Überspannungen abgesenkt und Unterspannungen angehoben werden. Aber auch den umgekehrten
Lösungseffekt verpflichtet wie so oft ein- und dieselbe Übung. Durch das umschwingende Einlassen der Eigenspannung in die Schwerkraft wird gleichsam die Positionierung im Raum zentriert.
Im Nachspüren versuchen wir, nur noch unsere Körperperipherie in die Empfindung zu nehmen. Falls es
gelingt, sich allein auf die Körperwände hin zu sammeln, können wir erleben, wie der pausenlose Atem mit kurzer Amplitude hin und her schwingt. Gehen wir mit unserer Aufmerksamkeit jedoch von der Körperkontur
nach innen weg oder nach außen über uns hinaus, so wird dieses Peripherieatmen von einem tiefen Atem- zug unterbrochen. Die Arbeit erfordert besonders die Fähigkeit zur Hingabe in der Sammlung und sie kann
auch deshalb leicht misslingen, wenn die Achtsamkeit zu stark und in eine spitze Konzentration hinübergleitet, wodurch das hingebende Moment in der Sammlung geschwächt wird.
Unsere Sammlungsarbeit an der Körperperipherie dient dazu, die sensorische Leibgrenze zu flexibilisieren
und eine größtmögliche Verschiebbarkeit in den Außenraum vorzubereiten. Wenn wir voll in einer Situation aufgehen, richten wir unsere Sinne auf eine Sache oder eine Person und spüren dabei über uns hinaus. Die
Leibgrenze ist dabei über die Körperkontur hinaus. Die Leibgrenze kann beim Auftritt eines darstellenden Künstlers so in den Raum ausgedehnt sein, dass er das Publikum in seinen Raum einschließt und so die-
sen durch seinen Transsensus mit seiner Person stimmt und füllt.
Eine kohärente Leibverschränkung mit dem Außen besteht bei Rückzug- oder Kampfverhalten ebenso
wenig wie eine Vollatembewegung. Diesen beiden großen Affektgruppen entspricht ein Flucht- beziehungs- weise ein Abwehrtonus. Beim Fluchttonus ist die sensorische Leibgrenze hinter die Körperkontur zurück-
gezogen. Die äußeren Muskelschichten sind unterspannt. Es besteht eine Überempfindlichkeit. Bei einem Abwehrtonus dagegen ist die Muskulatur zu hart und die Leibgrenze an die Körperkontur zurückgesetzt.
Das Empfindsame gegenüber dem anderen fehlt, so dass es an Empathie mangelt. Die Leibgrenze birgt alle Momente unserer Lebendigkeit oder Erstarrtheit.
Über die verschiebbare Leibgrenze wächst, entwickelt und entfaltet sich die Person in der Welt. Über sie
assimiliert die Person die Außenwelt und über sie unterscheidet sich diese von dem Fremden. Einflüsse werden über die sensorische Leibgrenze inkorporiert oder abgefedert. Die Qualität ihrer Elastizität
entscheidet, wie das Außen am Innen und das Innen am Außen als eine Resonanzbeziehung arbeitet. Im Innern des Menschen kann sich deshalb ein Hiatus zwischen Innen und Außen ausbilden, aus dem „alle
Probleme der Seele entstehen (Arnold Gehlen).
. . .
Abschluss: Die Zentrierung des mittleren Atemraums
Die abschließende Übung soll vor allem die durch Raumerweiterung gewonnenen Kräfte vor dem Zerfließen
oder Verschleudern bewahren. Durch eine Zentrierungsarbeit gilt es von vornherein dieser Gefahr vorzu- beugen. Würden wir jetzt ohne Abschlussarbeit aufhören und hätten wir die Raumausdehnung gar noch
durch weitere Arbeiten, etwa die Arbeit mit dem Vokallaut „E“, radikalisiert, würde alles andere als ein In-sich-ruhen entstehen. Wir könnten danach anhaltend gereizt sein, ja im schlimmsten Fall gar Außer-
uns-sein, wenn wir nun mit dieser Geöffnetheit ohne Selbstzentriertheit in den vital-sensorischen Bewe- gungsraum des Alltags treten.
Indem wir die Möglichkeit dieses Negativium aufzeigen, verdeutlichen wir die enorme Wirksamkeit der doch
einfach sich ausnehmenden Arbeitsweisen des Erfahrbaren Atems. So hat jede einzelne Ãœbung innerhalb des gesamten Ablaufes der Arbeitsschritte einen Sinn. Jede Arbeitsweise mobilisiert energetische Extre-
me, die zu anderen ins Gleichgewicht gebracht werden müssen, soll das Thema einer Gruppenstunde eingelöst werden und zur Individualisierung der Kräfte eines Menschen beitragen.
Die zum Abschließen gewählte Arbeit ist wie alle Middendorfübung einfach und wirkt zugleich komplex. Sie
soll vor allem einen wirksamen Gegenpol zu den vorhergehenden Ausdehnungsübungen setzen. Wie bei aller Atemarbeit formen wir mit unseren Händen in innerer Anteilnahme einen Schneeball. Diese ist eine
wechselseitige passive Dehnung und Kontraktion der Außen- und Innenseite der Hand, durch die zum Abschluss alle energetischen Korrespondenzen mit dem Rumpf angesprochen werden. In diesem Spiel wird
in der Handmitte – jenem Punkt, von dem sich die Hand her aufdehnen lässt und in den sie dann auch zusammengezogen wird – eine Zentrierung erreicht, die wiederum eine entscheidende Korrespondenz zu
einem Atemraum im Rumpf hat. So wird all das in den Außenraum Gebrachte zusammengefasst und im Zentrum des mittleren Atemraumes angebunden.
Auf den mittleren Atemraum legen wir wie immer, wenn wir zum Ende einer Ãœbungseinheit kommen, die
Hände. Wir laufen also nicht einfach auseinander, sondern halten nochmals durchs Nachspüren inne, um uns schließlich aus der Atemerfahrung zu entlassen.
Hat der Atemlehrer viel rübergebracht und kommt das Glück der Stunde hinzu, so entsteht in der Rumpf-
mitte ein kerniger Impuls des Atems. Der ausgedehnte Leib ist damit zentriert und es ist eine Ichkraft erarbeitet, die deshalb stark genannt werden kann, weil sie an ihren leiblichen Rückhalt angebunden ist. Im
günstigsten Fall kann nach dieser Arbeit am Peripherie-Atem sogar die sensorische Mitte zwischen dem eigenen Innenraum und der Welt gewonnen entstehen! Dann gelingt, wenn die Atemvorbereitung so dicht
vor dem Auftritt liegt, dem darstellenden Künstler meist ein überragender Auftritt.
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Entspannung und Lösung
Nahezu unüberschaubar sind die heutzutage praktizierten Methoden und metaphysischen Annahmen, mit
denen am Atem geübt wird. Zu den klassisch gewordenen westlichen Atempraktiken gesellt sich seit dem Ausgang der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts die Unterweisung in der Körperpsychotherapie
und das Angebot an Entspannungsübungen. Hinzu traten als Körperspürverfahren die Eutonie von Gerda Alexander, die sensitive Bewegungslehre von Moshè Feldenkrais und die Haltungsschulung von F. Mathias
Alexander. Yoga als Atemschulung und Meditationstechnik wird seit der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert praktiziert. In jüngster Zeit wurden Taiji-Qigong, Akupressur und Shiatsu sowie Reiki,
Kinesiologie und Cranio-Sakral-Therapie populär, durch welche ebenfalls die Atembewegung ins Strömen kommt.
All diesen Verfahren ist gemeinsam, dass auf jeweils eigene Weise versucht wird, den geweblichen Tonus
umzustimmen und eine optimale Tonusverteilung zu erzielen. Da der zentrierende Kern der Spannungsmodifikation der Muskeln, der Sehnen und der Haut in der Bewegung liegt, die beim Atmen
entsteht, verspricht der Bezug auf das Atemphänomen tiefer vordringen zu können, wenn man nach dem gemeinsamen Sammelplatz der Erfahrungen, der Entdeckungen und der Erkenntnisse dieser Verfahren fragt.
Aus der Beachtung der Atembewegung Kriterien für das Unterscheiden zu gewinnen, bietet die Empirie
geradezu an. Viele Körperarbeiten nutzen Atemübungen, ohne selbst ihr Tun an einer Atemlehre ausrichten zu wollen. Vielen bioenergetisch ausgerichteten Praktiken in der Tradition Wilhelm Reichs (Alexander
Lowven, Gerda Boyesen), dem Taiji-Qigong oder dem Shiatsu steht der Atem als Pate zur Seite, dessen verbesserter Fluss als ein unbestechliches Kriterium für die Kontrolle der Arbeit gilt. Das klassisch
gewordene Autogene Training von Johannes H. Schultz will es direkt mit selbstsuggestiver Hilfe „atmen lassen“. Dagegen wird in der wohl prominentesten Atemlehre des Westens, dem Erfahrbaren Atems von
Ilse Middendorf, der personale Aspekt des Atmens betont, wenn darauf hinorientiert wird, dass „ich es bin, der atmet“, obgleich ebenso wenig aktiv beziehungsweise mit dem Willen geatmet wird.
Oftmals verliert der Atem seine überschießende Hektik, wenn eines der angebotenen Verfahren geübt wird.
In ein flaches Atmen kann sich durch einfaches Selbstzuwenden eine Pause nach dem Ausatmen eintragen. Wegen dieser Abstandnahme von der Welt kann sich prompt die Atemschwingung im Bauch
ausweiten. Der Atem wird tiefer werden. Wie ansonsten auch vermag der Mensch nach einer Pausenbildung Distanz zum Alltag gewinnen und sich Ruhe zu gönnen. Er fühlt sich entspannter und sein
Kopf bleibt vielleicht bis zum nächsten Anlass für ein Stresserleben frei, bei welchem der Atem aus seiner Beckenverankerung springt und infolgedessen über dem Zwerchfell einsetzt.
Durch ein willkürliches Anhalten zwischen der Phase des Einatmens und des Ausatmens, das etwa der
Yoga praktiziert, werden die Körperwände starr. Infolgedessen verlieren die sensorischen Muskelsinne den Kontakt mit der Welt. Es ist ansonsten ein Atemfehler, wenn das Atmen in seinem gleitenden Übergang
zwischen der Ein- und Ausatemphase unterbrochen ist. Bei diesem Menschen ist die Welt in der Aufmerksamkeit abgerückt oder diese bleibt fern gehalten.
Eine Erfahrung aus der westlichen Atemarbeit sagt uns: Ist der Mensch mit all seinen Sinnen auf etwas
ausgerichtet, fühlt er sich in einer Situation atmosphärisch aufgehoben und steht er mit dem anderen in gutem Kontakt, so schwingst sein Atem im wahrsten Sinn des Wortes. Bauch und Brust weiten sich und
werden wieder schmal. Diese Atemfrequenz kann als eine Sinuskurve gezeichnet. werden. Dabei entsteht keine Atempause, selbst nicht nach dem Ausklingen der Ausatembewegung wie bei einer Ruheatmung. Ein
pausenloses Zick-Zack in der Aufzeichnung der Atemfrequenzen dagegen ist das Signum der überanstrengten Kontrolle einer Situation, wenn die Ausschläge groß, und der Angst, wenn die
Atemauschläge deshalb so klein sind, weil nur noch das Brustbein zittert.
In der Psychotherapie werden Atemübungen zum beruhigenden Zu-sich-selbst-kommen und in der wilden
Körperpsychotherapie zum emotionalen Außer-sich-geraten eingesetzt. Dem Sportler oder dem Künstler dienen Atemtechniken dazu, seine Fähigkeiten und Fertigkeiten auszudifferenzieren. Die Logopädie setzt
Atemübungen ein, um Stimmstörungen zu korrigieren. Auch in der Geburtshilfe wird das Atmen genutzt. Man gebraucht lösende, die Einatembewegung weitende Übungen zur Öffnung des Muttermundes und
Ausatemtechniken, welche die Austreibung befördern.
. . .
Doch nicht der heilkundliche Aspekt soll unsere Überlegungen weiterführen. Hier interessiert der Vergleich
mit anderen Verfahren, wobei der Fluchtpunkt unserer Betrachtung das Problem der Person sein soll, das auch die Gesundheitsthematik mitverpflichtet. Wendet man sich beispielsweise der Integrativen
Atemschulung nach Klara Wolf, der Atem- und Stimmschule nach Schlaffhorst-Andersen, der veeningschen Atemmeditation und Atembehandlung, der middendorfschen Atemerfahrung oder der glaserschen
Psychotonik nachhaltig zu, kann eine verhaltene Atembewegung wachsen und eine träge agiler werden. Der Mensch fühlt sich energetisiert und ihm drängt sich eine Helle der Sinne auf, die einer zum Kontakt und
Handeln bereiten Wachheit zugehörig ist. Wir sprechen von Lösung.
Lösung will etwas anderes sein als der Umschlag vom Gefangensein in der Hochspannung zur
weltabgewandten Entspannung. Für die Entspannung bedarf es keiner besonders anspruchsvollen Qualifizierung der genutzten Methode. Bei Überspannung kann schon die einfache Selbstzuwendung einen
Umschlag in die Unterspannung hervorrufen, was gemeinhin als Entspannung erlebt wird. Bei dieser sinkt die Gesamtspannung des Organismus ab und es entsteht eine charakteristische Ruheatmung mit geringer
Betonung der Brustatembewegung und einer Pause nach dem Ausatem. Im Abschlaffen schließlich ist jede persönliche Komponente des Verhaltens ausgelöscht.
Muskuläre Blockaden und Festhaltungen sowie unterenergetisierte Körperpartien können jedoch nur in
einen optimalen Spannungsausgleich gewandelt werden, wenn nicht in eine entspannte Ruhe hineingeführt wird. Lösung ist keine Entspannung, sondern an eine gute Grundspannung gebunden, die ein qualifiziertes
Verhalten der Person nicht nur in einem Verfahren, sondern auch im Alltagsverhalten erfordert. Denn Lösung kommt durch ein gelungenes Abstimmen des Verhaltens mit den Gegebenheiten der Welt
zustande. Ihr ist ein gutes Situiertsein im Raum, eine gerichtete Aufmerksamkeit und eine das Eigene und Fremde integrierende Leiberinnerung zugehörig. Auf diese drei genannten Grundstrukturen des Verhaltens
ist noch ausführlicher zurückzukommen. Hier interessiert zunächst nur, dass sich der Mensch löst, sofern seine Körperhandlungen, sein Wollen und seine Wahrnehmungen, kurzum sein Ich, an sein leibliches
Verhalten angeschlossen sind, das aus dem Befinden hervorgeht und immer als ein Bezugsverhältnis zwischen Binnenrealität und Außenwelt zu begreifen ist.
Der Yoga mit seinen aktiven Dehn-, Streck- sowie technischen Atemübungen oder die Funktionelle
Entspannung von Marianne Fuchs mit ihrem ebenfalls willkürlich geführten Atemeinsatz entspannt ebenso den Muskeltonus wie die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobsen oder die zunächst ebenfalls die
Spannung aufladenden Übungen der Bioenergetik nach Alexander Lowen. Dagegen lösen das „Schattenboxen“ des Taiji-Qigong und die meditative Bewegungsübung im Zen. Einen ebenfalls lösenden
Effekt haben das von Moshè Feldenkrais propagierte Bewegungslernen für Jedermann, die bei Musikern und Sängern beliebte achtsam-behutsame Alexander-Technik sowie die in der psychosomatischen Klinik
institutionalisierte Konzentrative Bewegungstherapie.
Die Konzentrative Bewegungstherapie wurde direkt aus der Arbeit von Elsa Gindler hergeleitet. Feldenkrais
nutzt ohne Herkunftangabe das Logo von Elsa Gindler: „Arbeit am Menschen“. Gindler hatte das Prinzip der sensitiven Bewegung entdeckt, wonach sich durch spürsam-langsam-wiederholtes Bewegen muskuläre
Lösungen ergeben und der Atem besser fließt. Lösungsmethoden sind außerdem die Eutonie Gerda Alexanders und die anthroposophische Lautdarstellung in der eurythmischen Bewegung sowie das
Schwingen und Kreisen in der Arbeitsweise Schlaffhorst-Andersen. Und keineswegs zuletzt spricht die middendorfsche Lehre des Erfahrbaren Atems oder die Psychotonik von Volkmar Glaser ausdrücklich von
Lösung statt von Entspannung.
Mehr als diese beiden Möglichkeiten, durch Entspannung oder durch Lösung den Muskeltonus
umzugewichten, unterscheiden wir damit zunächst nicht. Ebenfalls auf der einfachen Ebene der uns weiter interessierenden Tonusumgewichtung sind darüber hinaus zwischen den verschiedenen Verfahren
prinzipielle Unterschiede insoweit festzustellen, als sie entweder im Verhältnis von Körper und Seele oder als Zugänge zur Leib-Seele-Geist-Einheit verstanden werden.
* * *
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Atemreguliete Intentionalität
Die verschiedensten Vorgehensweisen im Umgang mit dem Atem, seinem Nutzen und seiner Pflege,
ergeben sich aus der muskulären und sensiblen Organisationsfähigkeit der Atembewegung. Das Ziel einer Vollatembewegung kann mitnichten durch Atemtechniken eingelöst werden. Damit sich das Zwerchfell zur
Lungenfüllung absenkt und sich gleichzeitig der Brustkorb aufdehnt und ein rhythmisches Weit- und Schmalwerden den ganzen Rumpf erfasst und bis in die Extreme der Arme und Beine ausfließt, müssen
die gleichgerichteten und entgegengesetzten Druck- und Zugkräfte der vielen beteiligten Muskeln integriert sein, deren optimale Tonusverteilung leicht verzerrbar ist. Im Ineinandersein von Atembewegung und
Muskelspannung vollzieht sich die sinnenhafte Ausrichtung der Person im Raum. Denn die Vollatembewegung ist eine biologische Strebung, zu der nur ein gut in der Welt gespannter Leib hintendiert.
Die Atembewegung kann deshalb zu einem sensiblen Organ des intentionalen Verhaltens werden, weil die
rhythmische Innervation der Atemmuskulatur an das unspezifische Aktivierungssystem der Formatio reticularis gekoppelt ist, das Nervenprozesse hemmt sowie erregt und dabei wichtige Bereiche der
Großhirnrinde ebenso aktiviert wie die peripheren Empfindungs- und Bewegungssysteme. Die Formatio reticularis ist die zentrale Durchgangsstelle für alle mental bedeutenden Informationen. Dieser neuronale
Zellverband zieht sich vom Hirnstamm, dem verlängerten Rückenmark, bis in das Emotionen und Gedächtnisinhalte verarbeitenden Zwischenhirn und wird schließlich durch die willkürbewussten Impulse
des Neokortex beeinflusst. Die Retikulärformation ist als Tonusregulation nicht nur für das sensomotorische Bewegungssystem bedeutsam, sondern für alle aus der Peripherie kommenden seelischen Regungen, und
ist damit auch „wesentlich am Entstehen von Bewusstsein beteiligt“ (Gerhard Roth).
Über die Retikulärformation setzen sich Spannungsempfindungen der Atembewegung in seelische
Gewahrsamkeiten um. Empfindungen, die im Befinden wurzeln, sind nicht mit Wahrnehmungen identisch. Erstere haben ihren primären Bezug in den Regularien der nervalen Peripherie und letztere in der
Großhirnrinde. Über diese zentrale Transformationsstelle Formatio reticularis erfährt das gegenständliche
Bewusstsein eine leibliche Rückvermittlung und wird dadurch phänomenal. Die retikulären Systeme können deshalb weder bloß neuronal-hormonelle Leitungen noch bloß anatomisch-physiologische
Funktionseinheiten sein, wenn man nach ihrer Bedeutung für eine Theorie des Bewusstseins fragt. Dass es eine Atemfrage ist, wo der Schnitt zwischen Empfindungen und Wahrnehmungen anzulegen ist, dafür
spricht die enge Bindung der Atemfunktion an die Formatio reticularis. Erstere ist ein Teil des Systems der letzteren.
Die retikuläre Vigilanzfunktion stellt allgemein die muskeltonischen Bereitschaften zur Welt ein. Ob wir
müde oder wach sind beziehungsweise unsere Bewusstsein trübe oder helle aufscheint, ist muskeltonisch davon abhängig, wie der Organismus eine Position im Raum einnimmt. Wir sprechen vom Lagetonus.
Daraus entstehen Atmosphären. . . .Diese drei Funktionen der Formatio reticularis lassen zusammen mit muskulären Funktionseinheiten einen Akkord von Wachheit, Aufmerksamkeit und Erinnerung erklingen.
Die hier anklingende Vielschichtigkeit von Zusammenhängen zwischen unserer leiblichen und personalen
Existenz habe ich an anderer Stelle umfangreicher dargelegt und auch gezeigt, dass mit diesen retikulär-muskeltonischen Subsystemen Sondermeridiane der althergebrachten chinesischen Lehre
ineinander sind (vgl. „Ruinöse Zahnwerkstoffe. Wie Kunststoffe in der Mundhöhle die Atembewegung stören). Es existiert ein komplexer Mechanismus, über den die bewusst-unbewussten Haltungen des Ichs
in die Atemtätigkeit zurückstoßen. Er legitimiert, das Atemthema als Leibthema abzuhandeln und führt direkt zur leibphilosophischen Kernfrage der Intentionalität, die uns darüber informiert, wie wegen der
Aufrichtung des Menschen die Atemfrage mit der Bewusstseinsfrage verknüpft ist.
Wenn wir mit unseren Sinnen gelassen gerichtet sind, wird die Grundspannung gegenüber einem
Ruheverhalten durch die retikuläre Aktivität angehoben. Wir sprechen von einer Bereitschaftshaltung, deren gute Tonuslage erlaubt, dass das Brustbein beim Einatmen nach vorne stoßen kann. Dieser
Atemmechanismus von Bereitschaftshaltung und Brustbeinbewegung ist die entscheidende Voraussetzung dafür ist, dass sich eine Vollatembewegung entwickeln kann, bei der sich sowohl der Bauch aufdehnt als
auch der Brustkorb bewegt. Denn wegen dieser leichten Brustbeinhebung werden die unteren Zwischenrippen in einen tonischen Gegenhalt zum sich absenkenden Zwerchfell gebracht, dass sich die
Interkostalmuskeln antagonistisch zu dessen Abwärtsbewegung gleichzeitig weiten können. Der Brustkorb kann sich nun unten nach oben auffächern.
. . .
Die Pointe dabei ist, dass wir die noch immer vorherrschende Bewegungslehre, die vom Primat eines
Willensimpulses auf zentraler Großhirnebene ausgeht, der sich zum einzelnen Muskel seinen nervalen Weg bahnt, hinter uns lassen müssen, um zu begreifen, dass das willkürliche Handeln des Ich, einen
leiblichen Gegenhalt hat, der in den passiven Dehnungsmöglichkeiten der Muskulatur existiert. Die westlichen Atemmethoden fordern auf, nicht vom Willen bei der Betrachtung der Bewegung auszugehen,
sondern von der Lösung.
Entspannt wird der kontrahierte Muskel, der bei manchem trotzdem noch hart oder fest bleibt, obgleich die
aktive Muskeltätigkeit bereits beendet ist. Die Lösung ist das Korrelanzprinzip zur Muskelkontraktion, durch welche chemische Energie in mechanische Kraft umgesetzt wird. Denn Lösung vollzieht sich in der
Bewegung gegenläufig zum zusammengezogenen Muskel, und zwar in dessen gelenkübergreifenden Gegenspieler, der bei einer Kontraktion aufgedehnt wird.
Der Muskel kann sowohl zum Schwellkörper verkürzt als auch zum Schmalkörper verlängert werden, weil er
in Sarkomere unterteilt ist. Innerhalb dieser Muskelabschnitte können die Filamente, die ihre Länge selbst nicht verändern, bei einer Muskelanspannung ineinander gleiten und bei einer passiven Dehnung
auseinander gezogen und damit gelöst werden. Dies ist etwa so vorstellbar, als würde man zwei ineinander gesteckte Kämme bewegen. In der Normallage überlappen sich teilweise die dünneren Actin- und dickeren
Myosinfilamente, weshalb sich unter dem Elektromikroskop bandförmige Strukturen mit unterschiedlicher Lichtdurchlässigkeit, deshalb sogenannte quergestreifte Muskulatur abbilden.
. .
In dieser Wechselseitigkeit von Atembewegung und Haltung wird die Atembewegung endgültig zum Integral
des Reflexgeschehens, dessen Aufgabe es ist, den Menschen sein Gleichgewicht gegenüer der Schwerkraft und der Fliehkraft behaupten zu lassen. Über die Haltung, in welche auch Gesinnungen des
Ichs einschießen, vollendet sich der Raumbezug der Atembewegung als sensorisches Organ und realisiert sich die Intentionalität.
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Die Atembewegung als Körper und Leib
Für die verschiedenen Möglichkeiten, die sich anbieten, mit dem Atem umzugehen, ist die organische
Doppelfunktion des Zwerchfells entscheidend. Einerseits bleibt die Tätigkeit dieses Atemmuskels vom Willen ungetrübt. Der Atem verrichtet seine Dienste normalerweise bewusstseinsfern, seine Bewegung
entsteht und vergeht automatisch und es bedarf nicht unseres Zutuns. Andererseits ist die Aktivität des Zwerchfellorgans willkürlich beeinflussbar, denn es besitzt quergestreifte Muskulatur, weshalb selbst das
geringste Beobachten der Zwerchfellaktivität die Atembewegung verändert oder gar stört. (Es ist übrigens deshalb zu empfehlen, bei einer Innenschau gerade von der Zwerchfelltätigkeit abzusehen und auf die
indirekte Wirkung der Atemschwingungen im Gewebe die Sammlung zu orientieren.) Da der Atem als einzige auf das Vegetativum bezogene Funktion nicht nur automatisch vonstatten geht, sondern zugleich
direkt dem Bewusstsein und dem Willen zugänglich ist, nimmt er eine Sonderstellung ein.
Die Atembewegung hat wegen der Doppelfunktion des Zwerchfells eine zweifache Mittelstellung inne.
Einmal steht das Atmen bezüglich der direkten Zwerchfellbeeinflussung auf der Schwelle zwischen willkürlich und unwillkürlich anregbarer Muskeltätigkeit. Die funktionelle Betrachtungsweise offeriert die
Möglichkeit der tätigen Einflussnahme sowie das passive Belauschen, verweist auf das Erleben von technisch direkt erzeugten sowie von indirekt hervorgerufenen Befindlichkeitszuständen und bezeugt die
Extreme der aufpeitschenden Ekstase und der asketischen Instase. Zum anderen erhält wegen der Integration der gesamten Spannungsorganisation in die Atembewegung die willentliche Handlungsfähigkeit
und die Bewusstseinstätigkeit einen Rückhalt in der Atembewegung selbst, weshalb diese von vornherein mehr als ein rein physiologischer Sachverhalt ist, der als ein untersuchbarer Muskelstoff und eine
registrierbare Empfindung zum Gegenstand der naturwissenschaftlichen Betrachtung werden kann. Nirgendwo anders als in der Atembewegung verschränken sich so einfach und unmittelbar die körperlichen
und die leiblichen Aspekte des menschlichen Lebens.
Der Körperaspekt der Atembewegung und überhaupt als Gegenstand der zweckhaften Handlung ist der
mechanischen Untersuchung der physikalischen und chemischen Gesetze zugänglich. Die Naturwissenschaften sagen über die Sinnesregularien des Körpers etwas darüber aus, warum wir sehen,
hören, riechen, schmecken und tasten sowie handeln, erkennen und denken können. Über Körpergesetze erhalten wir jedoch keine qualitative Auskunft. Der Körper kennt nur Zwecke und strukturelle Bezüge, die
außerhalb der Beziehung von Innen und Außen liegen, durch die das Erlebnishafte und das darin Personenabhängige sowie Sinnbezogene als Leib realisiert werden.
Der Leib wird wegen der Innen-Außen-Verschränkung zur vitalen Bedingung des Wahrnehmens und
Bewegens sowie des Erkennens. Denn erst über den Leib vollzieht sich ein magisches Abgestimmtsein von Innen und Außen. Die Person realisiert sich durch ihre Leiblichkeit, indem Innen und Außen kohärent
zueinander verschränkt sind. Dann verhält sie sich so transsensisch, dass sie sich bei den Sachen oder bei
dem anderen befindet, ohne sich von diesen reflektierend zu distanzieren. Dadurch entfaltet sich die Einheit des leiblichen Seins mit dem körperlichen Haben. In welcher Art und Weise eine körperlich-zweckhafte
Handlung ausgeführt wird, wie wir wahrnehmen und uns bewegen, ausdrücken und verhalten, ist im leiblichen Dasein, dem Befinden, begründet.
. . .
Angesichts der Atemfrage beginnen sich die klassischen Erkenntnismittel zu erschöpfen. Das mit
Atemgestalten konstituierte Resonanzphänomen verlangt, den Körper in Felder und die Substanz in energetische Kräfte und Informationen aufzulösen. Doch derartige Beziehungen können nur noch begrenzt
durch wiederholbare Experimente verifiziert werden. Atemgestalten sind nicht an jedem Ort und zu jeder Zeit reproduzierbare Naturerscheinungen, weil ihnen jene Objektstabilität fehlt, in denen sich die dinglichen
Messkünste bewährt haben. Denn Atemgestalten – darum wissen wir bereits und kreisen wir es nochmals von diesem Aspekt ein – bauen sich auf oder zerfallen in einer phänomenalen Situation.
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Atemsubstanz
Die middendorfsche Atemmethode ist schließlich darauf angelegt, die unwillkürlich frei werdende
Atembewegung in Atemsubstanz zu transformieren. Von innen kann bekanntlich viel kommen, um affektiv aufgewallt oder illusionär aufgeladen zu werden. Dagegen macht es den Charme der middendorfschen
Atemerfahrung aus, dass sie sich an der Prägnanz von Empfindungen, nicht an der emotionalen Wertung oder weltanschaulichen Interpretation von Leiberfahrungen orientiert.
Empfindungen werden als körperliche Proportionen beziehungsweise als kalte oder warme, helle oder
dunkle, flächige oder räumliche, gerichtete oder zentrierte Atembewegungen erlebt, ohne dass sie in ihrem Erfüllungsgehalt sprachlich präzisiert werden könnten. Jede weiterführende Rede über eine erlebte
Empfindung und selbst der Versuch ihres hermeneutischen Aufschließens verlassen den Status des middendorfschen Verfahrens. Das Wissen um die konkrete Bedeutung von Empfindungen ist kaum eine
das middendorfsche Verfahren verbessernde Zutat, sondern bedroht diese. Denn als Wertung stellt sie sich allzu leicht vor den Erfüllungscharakter einer originären Atemerfahrung und blockiert die Möglichkeit, das
Geistige durch Bildung von Atemsubstanz anzureichern.
Soweit der täuschungssicheren Empfindung als eine Anschauungsform des Bewusstseins subjektive
Beliebigkeit anhaftet, wird diese bezüglich der gestaltförmigen Atemgesetze überwindbar. Durch die
Sammlungspräsenz in der Atemerfahrung kann deshalb etwas hinzugefügt werdem, was als Substanz den
Atem in seiner Personenqualität und individuellen Sinnhaftigkeit konstituiert. Ilse Middendorf kann mit ihrer Methode eine dritte, gegenüber dem unbewusst bleibenden und dem willenstechnisch hervorgerufenen
Atmen eine eigenständige Atemweise aufschließen: den Erfahrbaren Atem.
Atemsubstanz ist weder ein beliebiges Lösen der Spannung noch ein aktivitätsentlastetes Entspannen, das
wir bei verschiedensten Körperübungen, auch nach einer Gymnastik oder selbst wenn wir ausruhen oder am Sandstrand dösen, dadurch erleben können, dass irgendetwas lebendiger wird, sich eine Muskelkette
durch eine Atembewegung abspannt, eine Schulterbelastung den Rücken hinunter abrieselt oder eine Stauung im Becken in die Beine abfließt. Atemsubstanz ist keineswegs nur ein unwillkürlicher Atemfluss,
welcher auch durch die aktive Dehnung der Gymnastik, das Stretching, oder eine rhythmische Gymnastik entsteht, ohne dass diesem dort eine besondere Beachtung zugemessen wird. Die Bildung von
Atemsubstanz ist an einen meditativen Zugang gebunden, der in der Sammlung zum Innewerden seine Stütze gibt. Substanz reichert sich nur an bei einer „gesammelt durchgeführten Atemweise“ (Ilse Middendorf).
Die personale Anforderung, die bei der Kontaktaufnahme mit dem eigenen Leib entsteht, hat als Sammlung
der Lösungsempfindung zu begegnen, die durch die von innen kommende und durch die in tonisch ungleichgewichtiges Gewebe eindringende Atembewegung hervorgerufen wurde. Erst in diesem
Zusammenfinden von Sammlung und Empfindung wird der unwillkürliche Atemfluss substanzhaft. Deshalb ist jedes instrumentelle Umgehen, willkürmotorische Antreiben sowie absichtsvolle Erreichen hinter sich zu
lassen, das vom Aspekt des instrumentell verfügenden und zweckhaft eingesetzten Körperhabens aus den Atem anspricht
Dass durch Atemerfahrungen das Ich-Bewusstsein zu übersteigen ist, qualifiziert sich schließlich in einem
Sachverhalt, der sich absolut einer körperpsychotherapeutischer Nutzung widersetzt: Atemsubstanz ist mehr als das Erleben eines beliebigen Rhythmus im Atemweiten und Schmalwerden, weil dem erlebten
Freiwerden des Eigenrhythmus anthropologische Qualitäten der Atembewegung zugrunde liegen, durch deren Aufbau das situative Verhalten gelingt und durch deren Zerfall es misslingt. Wenn sich im leiblichen
Charakter der Atembewegung die biografische Geschichte eines Menschen fundiert, setzt jedes psychologische Verstehen, Untersuchen oder Forschen nicht tief genug in der biologischen Materialität der
menschlichen Existenz an.
. . .
Indem in die Bewegung freizugebende Atemgestalten als gesammelte Atemerfahrungen mit Substanz
angereichert werden, findet alles andere als eine mystische Vernichtung des Egos statt. Durch die Sammlung auf den von „innen nach außen“ drängenden unwillkürlichen Atemfluss werden die Ich-Kräfte an
den Leib angeschlossen. Der Körper wird durch die Person an den atembewegten Leib „angewest“ (Martin Heidegger).
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Die beseelte Stimme
Wir singen und sprechen mit dem ganzen Leib. Fast jeder hat schon erfahren, wie über das Tönen, Singen
oder Sprechen, aber auch das geniesende Hören seelische Befreiung erreicht werden kann. Offenbar ist die Stimme mehr als in Schwingungen versetzte Atemluft, ein erklingender Vokal mehr als ein Signalzeichen,
ein Tremolo mehr als eine Funktion der Stimmbänder und eine Rede mehr als eine Mitteilung. Denn der Ausdruck der Stimme hat einen personenbezogenen Sinn, der nicht aus dem Zusammenspiel von
körperlichen Instrumenten und den Anforderungen des Klanglichem hervorgeht.
Die durch die Stimme technisch erzeugte Klangwelt liegt gleichsam außerhalb von dem Gebiet des
Musikalischen und Rhetorischen, das nicht funktionell überführbar ist, weil auf ihm das spezifisch Menschliche gedeiht. Im Interesse der Erkundung eines anthropologischen Terrains, das vornehmlich durch
intuitive Erkenntnisse, gewonnene Erfahrungen und Weisheiten im einsichtigen Umgang mit dem Menschen geprägt ist, gilt es zunächst darüber hinweg zu sehen, was man über das Verhältnis der Stimme zum
Kehlkopf, zum Zwerchfell und zu der Atemluft durch die Naturwissenschaften weiß sowie was als entdeckte und erforschte Techniken ihrer Beherrschung in institutionalisierten Ausbildungen etwa an
Musikhochschulen und pädagogischen Hochschulen konsolidiert werden konnte. Wir wollen stattdessen das Erstimmen als medialisierte Grundlage einer Erlebenskunst auffassen, die von der Atembewegung ausgeht.
Im frühen Christentum und in fernöstlichen Religionen hat man den Laut als mystischen Akt
hervorgebracht, um eine Urkraft schöpferisch ins Wort zu nehmen. Man denke etwa an das bekannte „OM“ aus der buddhistischen Meditation. Die christliche Esoterik der Anthroposophen verlangt den Namen so zu
rufen, dass eine Sphäre mit dem anderen entsteht. Der Name soll beim anderen verleiblicht ankommen, damit dessen Sinne wach werden und dieser in den Resonanzkreis, den gemeinsamen Wohnraum
sensorischer Leibverschränkung von Innen und Außen, hineingezogen wird. Und keineswegs zuletzt ist an jene Urform des tönenden Ausatmens zu erinnern, mit dem alles beginnt und um das alle Mythologien, von
den orientalischen Kosmogonien bis zu den symbolischen Geschichten von Deukalion und Prometheus, wissen: den Schrei, mit dem der Mensch selbstständig ins Leben tritt, nachdem er geboren wurde.
Der Laut gründet in der Atembewegung. Obgleich diese Aussage für jeden Sänger und jeden Schauspieler
eine nicht mehr zu hinterfragende Selbstverständlichkeit ist, bleiben die Gründe ein Rätsel, weshalb die Stimme durch die Atembewegung beseelt wird. Wenn man durch die physiologischen Wissenschaften
exakt um das enge wechselseitige Verhältnis zwischen der Kehlkopftätigkeit und der Zwerchfellbewegung Bescheid weiß, so ist die Frage, wie der Charakter des stimmlichen Ausdrucks vor allem durch eine
leibliche Tiefendimension bestimmt wird, seit Humbold, Herder und Gerber lediglich eine intuitive Erkenntnis geblieben. Diese hat durch die praktischen Erfahrungen der westlichen Atempioniere des vergangenen
Jahrhunderts eine Stütze gefunden.
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Der reine Atemlaut
Ilse Middendorf hat den Laut in seiner Grundlage als durch die Atembewegung ausgelöste
Spannungsempfindung herausgefunden, indem sie der Entdeckung von Leser-Lasario folgte, wonach bereits ein schweigend aufgenommener, nur innerlich gedachter Laut, auf die Atembewegung wirkt. Middendorfs
Erfahrbarer Atem durchleuchtete die Atem-Ausdehnungsräume der Vokale, die sensorischen Richtungströmungen, Verdichtungen und Ausdehnungsfelder der stimmhaften Konsonanten und bei den
stimmlosen Verschlusslauten die dynamischen Anschlagsimpulse mit ihren sensorischen Ausbreitungen nach Innen und Außen. Jeder Laut hat einen im Leib gesetzmäßig sich erregenden Schwingungsort, an
dem sich die Atembewegung intensiviert, wenn an einen Vokal oder einen Konsonanten nur gedacht wird.
Ilse Middendorf hat sich in ihrer Arbeit mit den schweigenden und tönenden Lauten direkt an den
Empfindungsstrukturen der sie tragenden Atembewegung orientiert. Sie hat in ihrer empfindungsprägnanten Erfahrungsarbeit die energetische Korrespondenz zwischen den Spannungsformen des Kehlorgans und der
Atembewegung nachgewiesen. Damit wurde quasi die andere Seite der Stimmarbeit von Schlaffhorst-Andersen, der Vokalatemgebärden Leser-Lasarios und der eurythmischen Lautbewegung der
Anthroposophen offengelegt und direkt angegangen: der Empfindungsrückstoß der Lautbewegung in die energetischen Strukturen des Atems. Durch Middendorfs prägnanter Empfindungsarbeit wird endgültig
unabweisbar: Dem Laut sind gesetzmäßig Atemformen unterlegt, die mit ihren hervorgerufenen Spannungsempfindungen Grundstimmungen des menschlichen Daseins einfärben.
Die Vokalraumarbeit im Erfahrbaren Atem, die Ãœbung mit Konsonanten ist dieser Kurzbenennung
zugehörig, versteht sich weder als Schulung der Sprache noch will sie direkt die Stimme im Rahmen der Gesangspädagogik bilden. Sie verweist vielmehr auf das leibliche Unterfeld aller Artikulation in der
Atembewegung, die Spannungsfähigkeit der beim Sprechen und Singen beteiligten Muskelfasern sowie die kinästhetische Empfindung als Grundlage des Hörens und Sprechens. Bei der Vokalraumarbeit soll nicht
schön gesungen und auch nicht effektvoll gesprochen werden. Denn soweit etwa ein Vokal getönt wird, soll Atemkraft in der leiblichen Raumform des Lautes erlebt werden. Atemkraft aber ist hier als Differenzierung
der Atembewegung durch den reinen Atemlaut gemeint.
Vokalraumarbeit im middendorfschen Sinne zielt direkt auf die Spannungsempfindungen, die beim Atmen
entstehen. Insofern ist die Vokalraumarbeit vom segensreichen Tönen zu unterscheiden, das ebenfalls einen Leibanschluss für die Stimme sucht, aber nur die Resonanzschwingungen im Rachenraum beachtet
oder sich mit der eurythmischen oder gebärdenhaften Ausdrucksbewegung verkoppeln will. Der große Rachenraum über den der aufgerichtete Mensch verfügt, erlaubt ihm, die Sprachlaute fein zu modellieren.
Wenn bei Ilse Middendorf überhaupt von Stimmbildung gesprochen werden könnte, so will sie diese in der Tiefe der Atembewegung, nämlich dort einsetzen lassen, wo die Stimmmodulation ihre energetischen
Korrespondenzen hat. Sie kommt dadurch zu einem vertieften Verständnis der sprechenden und gesanglichen Stimme. Äußerlich zur Kunst ist ihre Methode nicht. Sie hat ihre Arbeit in jahrelanger Arbeit
als Dozentin an der Berliner Hochschule für Musik und Darstellende Kunst entwickelt, an die sie schließlich 1971 als Professorin berufen wurde.
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Es ist zur Genüge bis hinein in die Formung des Tremolo untersucht worden, wie das Ansatzrohr, innerhalb
dessen die Laute oberhalb der Kehle geformt werden, das Stimmorgan Kehle sowie die Atemmuskulatur Zwerchfell und Zwischenrippenmuskulatur zusammenspielen. Unabweisbar zeigt uns darüber hinausgehend
die middendorfsche Vokalraumarbeit in einer außergewöhnlichen Prägnanz von unterscheidenden Empfindungsproportionen, dass Atem und Stimme nicht nur in einem funktionellen, sondern auch
energetischen Verhältnis zueinander stehen. In diesem aber setzt erst gebiert der Gebrauch der Stimme ihren sinnhafter und personenbezogener Ausdruck.
Die von Ilse Middendorf ausgebaute Vokalraumarbeit nutzt beim Lauten die systematischen
Korrespondenzen der energetischen Differenzierungen um das Kehlkopforgan zu dem gesamten Atemleib. Wegen dieser energetischen Korrespondenzen konnte die große Gesangspädagogin Franziska
Martienssen-Lohmann „die erstaunliche Tatsache“ feststellen, „dass die Bewegungen des Ansatzrohrs sogar mit denen des Atemkörpers eine Einheit bilden“.
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Berühren als ein Antreffen und Aufrufen
Mit der Hand, die uns hält, wenn wir keinen Halt mehr finden, die uns berührt, wenn uns kein Wort mehr
erreicht, ist ein Thema voller Rätsel gegeben, das uns nicht nur in der Atembehandlung gestellt ist. Die Menschheit beschäftigt sich seit jeher mit den magisch-mystischen Inspirationen, die aus dem Behandeln
hervorgehen, das wohl, wenn man so will, als die erste Thearapieform bezeichnet werden kann. Das Berühren malader Körperteile wurde offenbar in vorgeschichtlicher Zeit als so tiefe Zuwendung erlebt, dass
es zum rituellen Auflegen der Hände mit eigenständiger Symbolbedeutung auswuchs..
Um die Frage zu beantworten, was die Haptik für die Wahrnehmung der Welt bedeutet, wie sich der
Mensch eine Welt über die Hände erschließt und der eine dem anderen mit ihrer Hilfe begegnen kann, dürfte Immanuel Kants bewusstseinszentrierter Analogieschluss, wonach die Hand „das äußere Gehirn des
Menschen“ sei, wenig weiterführen. Denn das Spüren ist einer vom Denken qualitativ unterschiedenen Auskunfts- und Erkenntnisquelle zuzuordnen. Den Mythos aufzuklären, der sich um die berührenden,
schauenden und sprechenden Hände rankt, strapaziert nicht nur die spekulativen Möglichkeiten der Philosophie, sondern überfordert offensichtlich auch die empirischen der Einzelwissenschaften.
Jedenfalls bewahrt der kulturelle Fundus der Religion, der Weltliteratur und der Kunst-geschichte mehr auf,
als Experimentalanordnungen der Psychologie und Physiologie zu elaborieren verstehen. Das Behandeln wirft offensichtlich Fragen der Personenbezogenheit auf, wenn verschiedene Hände selbst bei der
einfachsten Berührung krass entgegengesetzte Erlebnisse hervorrufen können. Von vornherein erscheint ein physikalischer Reduktionismus ungenügend, der unterschiedliche Empfindungen beim Erleben einer Hand
auf das Kriterium des ausgeübten Drucks oder der abgestrahlten Wärme sowie der muskulären Elastizität des Empfangenden zurückzuführen versucht.
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Aber auch bei einer ansprechenden Berührung bewegt der eine virtuell den anderen und der andere lässt
sich bewegen. Die Anregungen rufen als Erwiderung Atemimpulse hervor, die zum weiteren Kontakt animieren. Wegen dieses dialogischen Sinneskerns kann eine (Atem-)Behandlung zur
zwischenmenschlichen Begegnung auswachsen, die das Gewisse ist, über das es, wie der einem religiösen Sozialismus verpflichtete Martin Buber feststellte, „keinerlei Sicherheit eines aussagbaren
Wissens gibt“.
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Das Ich und der Andere
In dem komplexen Geschehen der Atembehandlung, durch das sich Atemschüler und Atempädagoge
einander mitteilen, ist die einfache Grundgegebenheit enthalten, in der wir uns ursprünglich gemeinschaftsbildend verhalten. Wir stehen unaufhebbar in einer leiblichen Resonanzbeziehung zum
anderen. Ganz gleich, ob wir uns gegenseitig distanzieren oder miteinander sind, die Resonanzbeziehung ist das allgemein übergreifende einer Einheit, die sich als personale Bindung an das leibliche Verhalten im
Raum konstituiert, in der sich der Einzelne als Ausschluss entgegensetzen kann. Da wir nicht nur einen Körper haben und uns als Leib immer auf den Außenraum beziehen, indem wir ihn gemeinsam mit dem
anderen stimmen, finden alle historischen Selbstergänzungen des Ichs auf diesem Ursprungsgrund des Beziehens statt.
Mit den Manipulationen in der Behandlung spricht zunächst ein Ich ein fremdes Ich an. Dieser Körperaspekt
des handelnden Tuns und des wahrnehmenden Bewusstseins wird zum Türöffner, um den Leibaspekt des personalen Seins zu entwickeln, durch den erst der andere als Person aufgerufen wird. Unter dem Aspekt
der Leibhaftigkeit begreifen wir die Atembewegung eines Menschen als eine situative Verhaltensweise, durch die er sich im sinnlich-vitalen Raum abstimmt, sich geborgen fühlt oder dem anderen begegnet.
Hier ist meine Hand als ein körperliches Instrument. Aber mit ihr spüre ich nicht irgendein lebendes
Gewebe, sondern dich als Person, indem ich meine Hand auf deine Bauchdecke lege, deine Muskeln aufdehne oder deine Rippen federe. Meine Hand wird in dieser Personenbezogenheit leiblich bedeutsam.
Und hier ist ebenso zunächst mein Körper, der zum Leib wird, wenn deine Hand meinen Muskel aufdehnt oder meine Rippen federt, weil ich nun dich als Person spüre. In diesen gegenseitigen Übergängen von
Körper und Leib überschreiten sich Atemschüler und Atemlehrer jeweils selbst als transzendentales Ich, indem sie sich gegenseitig berühren und berühren lassen, virtuell bewegen und bewegen lassen.
Man kann das Körperverhalten soweit einen transzendentalen Akt nennen, als er durch das
Willkürbewusstsein, ein selbst- oder fremdwahrnehmendes Ich, eine zweites oder anderes Ich regiert wird. Dieser birgt wegen der eingeschlossenen Spürtätigkeit, dem transsensischen Verhalten, zugleich die
Möglichkeit, sein körperliches Zueinander in eine andere, nunmehr leibliche Verhaltensdimension zu transformieren. Werden durch den körperlichen Akt der Handarbeit zunächst Entsagungen des kulturfähigen
Ichs kompensiert, und darin folgt die Atembehandlung lediglich den Anliegen einer Körpermassage, so wird zugleich auch der Dialog mit dem unersetzlich anderen vorbereitet.
Durch das Meinen des anderen lässt sich die Atmosphäre des gemeinsamen Begegnungsraumes
verdichten. Der Kontakt in der Atembehandlung ist noch den Absichten des Ichs unterworfen und sei es die einzige Absicht, nichts zu beabsichtigen und es geschehen lassen zu wollen. Dieses Paradoxon wird im
ständig vorhandenen Übergang zum leiblichen Verhaltensbezug aufgelöst, bis schließlich ein Umschlag zum dialogischen Charakter der Atembehandlung stattfindet. Das Dialogische führt, wenn alle
Transzendentalität des Ich hinter sich gelassen ist. Da beide sich nicht mehr nur als jeweils sich selbst überschreitendes Ich verhalten und der körperliche Bezug zueinander, ein verschwindendes Moment ist,
findet ein Dialog zwischen zwei Peronen, dem einen und dem anderen statt.
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Nicht nur der Atemschüler kann angesprochen werden. Auch der Atemlehrer selbst wird durch die
Begegnung zum Unbekannten hingeführt und kommt in Fühlung mit seinem Atem-Selbst. Indem nun beide gleichzeitig auf das Gesamtgeschehen, der Atemlehrer auf den Atemschüler und der Atemschüler auf sich
selbst und seinen Atem gesammelt bleiben, bildet sich der Transzendenzraum für das Plötzliche und Unbestimmte, die Unterbrechung der Kontinuität für den Einfall des Entscheidenden, das Kairos.
Der personale Aufruf in der Atembehandlung realisiert sich, wenn sich die Sammlung in den unwillkürlichen
Atemfluss einzulassen vermag und als Bewusstsein zugunsten des Erlebens untergeht. Der Atem gewinnt „Substanz“ und wodurch das Ich an seinen leiblichen Rückhalt angebunden wird. Transzendenz entsteht im
Dialog, weil die Atembewegung die Immanenz sowohl zirkulärer Selbstbetrachtung der Iche als auch die Konstitution des fremden Subjekts in je meiner eigenen Subjektivität durchbricht.
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