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Gestaltung aus der Mitte
Die Frage nach biologisch unverträglichen Zahnwerkstoffen kann für Musiker, Schauspieler und Tänzer be- deutsam sein, um frühe
Schäden rechtzeitig zu erkennen. Viel spricht für deren Ernstnehmen, wenn man bedenkt, dass diese Berufsgruppen stets nah an der Leistungsgrenze ihrer Hände, ihrer Stimme und ihres Körpers arbeiten. Ob den
ständig wachsenden Anforderungen hinsichtlich Präzision und Auflösungsvermö- gen genügt werden kann, entscheidet oftmals über die berufliche Zukunft. Bereits in der Ausbildung klagt ein Großteil über
gesundheitliche Beschwerden solchen Ausmaßes, dass er das Üben zeitweilig einstellen muss.
Vor allem in meiner Arbeit mit Künstlern war ich schon früh für die atemstörenden Nebenwirkungen von Zahnwerkstoffen hellhörig geworden und
begann anfängliche Arglosigkeit zurückzunehmen. Ich wurde zunehmend auf das abseits Liegende aufmerksam. Aber gerade dieses kann uns einschärfen, welche entscheidende Eingangsstellung das Tun der
Dentisten für das Wohlbefinden sowie die Lebensfreude des heutigen Menschen hat und dass es nicht nur für die Klinik bedeutsam ist. Zu schildern ist eine Beobachtung bei einem jungen Mann, dessen
Atembewegung unbeeinträchtigt, ja voll war und unter meinen Händen des öfteren Mittensubstanz freigab. Laurent L. suchte als avancierter Konzertpianist in Atemerfahrungen eine Stütze, um seine künstlerische
Produktivität zu entfalten.
Laurent L. war schon über ein Jahr bei mir in der Atembehandlung gewesen, als er über einen Druck an den unteren Zwischenrippen, vorne an der
rechten Seite, klagte. Neuerdings war dort deutlich eine Starre zu spüren, die sich in der Atembehandlung zwar immer wieder ohne besondere Sensationen auflösen ließ, sich aber jeweils bis zur nächsten
Behandlung 14 Tage später wieder aufgebaut hatte. Ich war ratlos, weil sich dieses Spiel über ein halbes Jahr ohne wesentliche Verbesserung wiederholte. Die hausärztliche Abklärung der Zwischenrippenblockade
war befundlos geblieben. Hellhörig wurde ich, als mein Atemschüler nebenbei von seinem Zahnarzt sprach.
Der Kontrollbesuch bei einem im elektrophysiologischen Messen versierten Zahnarzt sollte Klarheit erbringen. Für diesen war es selbstverständlich,
dass diese Druckstelle im unteren Brustkorb mit einem Zahn energetisch korrespondieren konnte. Daher entdeckte er schnell, dass eine dementsprechende Amalgamfüllung liederlich angefertigt war. Sie war nicht
bissgerecht. Und das genügte für das Malheur. Nachdem die Füllung etwas abgeschliffen war, floss der Atem von Laurent L. wieder wie früher.
Die unsachgemäß eingearbeitete Plombe hatte weitreichende, für ein technisch-klinisches Selbstverständnis unvorstellbare Konsequenzen. Laurent
L. war wegen dieser nicht sachgerecht eingesetzten Füllung in der Atembewegung jene anthropologische Qualität abhanden gekommen, die in der Literatur, Philosophie oder Psychologie „Mitte“ genannt wird.
Atemmitte ist die über alles greifende Verhaltensweise, die entsteht und zukommt, wenn sich verschiedene Atemgestalten integrieren, etwa gerichtete Atembewegung aus zentrierten Atemräumen durch den
gesamten Atemleib fließen, sich beim Einatmen Substanz bilden kann, sensorische Raumgrenzen und Innen-Außenunterscheidungen deutlich werden können. Mit Mitte kann ein hoher Grad der Balance bezüglich sich
selbst und des Außenraumes gelebt werden, weil in ihr alle Gegensätze umschlossen sind.
Laurent L. war in der Zeit bis die Füllung korrigert wurde todunglücklich. Wegen ihr musste er beim Üben am Atem erleben , wie weit er von
jenem Zustand entfernt war, in welchem sich jene besondere Raumkraft des Gesamtleibes auszubilden vermag, die er in den Behandlungen mit mir mehrmals auf sensationelle Weise erleben durfte. Ein derartiger
Rückwärtsgang im Befinden wird besonders drastisch erlebt, weil sich nun dem gewachsenen Empfindungsbewusstseins deutlich aufdrängt, was nicht mehr lebendig ist, wo es hakt, feste und formlose, dumpfe und
helle Partien liegen.
Er fühlte sich im Alltag fassungslos. Gegenüber seinen drei Kindern war er ungewöhnlich gereizt und gegenüber seiner Frau verhielt er sich oft
unwirsch. Auch ansonsten war seine Ruhe und Gelassenheit dahin. In Konflikten im Nahbereich erlebte er sich mit einem distanzlosen Aufbrausen. Er fühlte sich in seiner Haut nicht mehr wohl und wollte im Grunde
nur noch allein gelassen werden.
Vor allem alarmierte ihn, dass seine Hände nicht mehr mit der gewohnten Geschmeidigkeit über die Tasten liefen und er sich überhaupt in seiner
künstlerischen Meisterschaft beeinträchtigt fühlte. Seine rechte Hand, die entscheidende Schnittstelle zwischen ihm und seinem Instrument, fühlte sich härter an und sein rechter Zeigefinger wollte nicht mehr,
wie er sollte. Im rechten Fuß bemerkte er eine verminderte Empfindsamkeit.
All dies verdankte sich seiner energetischen Belastung rechts an den unteren Zwischenrippen, mit der keineswegs eine arglos hinzunehmende Spannung
gegeben war. Sie war keineswegs ein lokales Geschehen, das hinnehmend zu vernachlässigen ist, denn sie wird durch die Atembewegung informatorisch weitergegeben und setzt sich als tonisches Ungleichgewicht im
gesamten Körper fort. Was weder ein klinisches Ereignis werden muss noch in der Normalität bei Menschen mit weniger ausdifferenzierter Empfindung besonders auffällig wird, das war für Laurent L. nicht nur
hinsichtlich des technischen Gelingens seines Klavierspiels bedeutsam.
Unsere Erfahrungen aus der Atemarbeit empfehlen, weit über das Körperliche hinauszuschauen. Wie Laurent L. im Atem Mitte zu fehlen begann, so
zerfiel sie auch im künstlerischen Ausdruck des Klavierspielens, wodurch seine Virtuosität abbaute. Er klagte, dass ihm die zu bindenden Extreme, die Einheit von Klang und Nichtklang, von Ton und Pause, Laut und
Stille auseinander fielen. Gemessen an seinen hohen Ansprüchen vermochte er einen Anfangsimpuls weniger befriedigend crescendierend durchzuhalten. Auch empfand er das deminuierende Fallenlassen des Tones als
leidend. Weil ihm die Atemmitte verloren gegangen und der mittlere Atemraum blockiert war, brach seine Klangenergie in abrupten Ausdruckskulminationen ein.
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Wenn die Kunst oder eine andere Fähigkeit zu einem integralen Teil der persönlichen Existenz geworden ist, bleibt das Selbst nicht mehr in
Vorstellung und Willen gespalten. Atemmitte übernimmt die Ausfallbürgschaft für den schöpferischen Willen der Person. Mit dieser kann sich der am Atem Übende den schöpferischen Klang, die innere Freigabe im
Tanz oder das szenische Füllen einer Darstellungsfläche einkaufen. Denn wegen der Einheitsfunktion der Atemmitte finden die Ich-Kräfte jene geistige Gestalt, die keine existentiellen Halbheiten, keine wunschhafte
Rede über das, was sein könnte, und kein feiges Ausweichen vor dem Leben mehr duldet, weil Atemmitte gelebtes Dasein „gebieterisch die Zuwendung aller Lebenskräfte“ (Ilse Middendorf) verlangt.
Mit Atemmitte gelingt das reflexionslose Einlassen einer Person in eine Situation, in der sie - wenn nötig - über ihr Tun verfügen kann. Da vom
Befinden im sphärischen Raum alle darstellende Kunst lebt, verweist die Bedeutung des Atems nicht nur auf das Klavierspiel, soweit dieses einen hohen Grad an technischer Fertigkeit in tonaler und
fingersatztechnischer Kombinatorik erfordert. Das technische Gelingen verlangt eine Lösungsfähigkeit, die aus der guten Atmosphäre geboren wird. Denn was der mit al-len Vieren spielende Pianist sinnhaft
darstellt, ergießt sich aus einem leiblichen Bildungsprozess, der von Atemgestalten, Atemraumintensitäten, Atemantrieben, Atemrichtungsdynamiken sowie vereinzelten, schwebenden und gebundenen
Atemimpulsen getragen wird.
Auch beim Pianisten konstituiert der leibliche Charakter seines Verhaltens einen Gestaltkreis des ineinander verschlungenen Bewegens und
Spürens. Das Ineinander der anschlagenden Hände mit den Klang- und Bindungsaufgaben des Pedalfußes ist von der anderen Seite der Motion, der Sensitivität, abhängig. Letztere ist als bewegender Tastsinn in
gestalthafte Hintergrundempfindungen eingebunden, die aus der Atembewegung hervorgehen und die alle Sinnesmodi in eine Gesamtheit von Zustandsbefindlichkeit und Wahrnehmung integriert.
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Ilse Middendorfs subtiler Umgang mit dem Atem ist in der Nähe der Kunst entwickelt worden. Sie war Professorin an der Berliner Hochschule für
Musik und darstellende Kunst.
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Inhaltsverzeichnis “Ruinöse Zahnwerkstoffe”
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