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Weiblicher Odem
Karoline von Steinaecker erzählt eine verschwiegene Geschichte
und schweigt über die Zeit des Nationalsozialismus
Karoline von Steinaecker, Luftsprünge. Anfänge moderner Körpertherapien, München-Jena 2000.

 

Auch wenn sie durch den heutigen Boom der verschiedensten Körper- und Atempraktiken verdeckt er- scheinen, sind Körperpsychotherapien heute nicht mehr wegzudenken. Dennoch erstaunt, dass über deren atempädagogischen Ursprünge aus dem ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts, kaum etwas veröf- fentlicht wurde. Hier schafft Karoline von Steinaecker mit ihrer weibliche Spurensuche Abhilfe. Sie trifft dabei auf einen Gegenstand, durch den die Weltanschauungskriege des vergangenen Jahrhunderts hindurch- gingen. Wenn zwar sich deren zerreißenden Oppositionen mit ihren einseitigen Betrachtungsweisen in- zwischen aufzulösen beginnen, schlägt noch immer der Traditionsbruch von 1945 auf die Verständnisse und Aneignungsweisen um das Atemgebiet durch. Er wird als Erkenntniisverlust erfahren.

Wenn vom Atmen in der Zeit vor 1933 geredet wird, weiß man in den psychotherapeutischen Kreisen noch am ehesten von der Initialzündung durch Wilhelm Reich. Aber dann wiederum ist es fast unbekannt, dass sowohl dessen Ehefrau als auch dessen spätere Lebensgefährtin Elsa Lindenberg Atemlehrerin waren. Ebensowenig weiß man, dass die Ehefrau des linken Psychoanalytikers Otto Fenichel Clara Fenichel Ausbildungsleiterin bei Elsa Gindler gewesen war. Und Frieda Fromm-Reichmann, die Gattin von Erich Fromm, dem Begründer der humanistischen Psychologie und ehemaligen Mitglied des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, gehörte ebenfalls zu dem Berliner Kreis von Atemlehrinnen.

Nicht nur die Ehefrauen berühmter Männer hatten die Atemkurse von Elsa Gindler besucht, die im Berlin der Weimarer Zeit als Geheimtipp linker Psychoanalytiker und Künstler galten. Von deren Entdeckungen waren auch Mosche Feldenkrais’ Bewegungsarbeit, das autogene Training des Psychiaters und Neurologen  Schulz sowie die Gestalttherapie von Fritz Perls inspiriert. Die meisten Schüler dieser heute vergessenen „Atemfrau“ der Weimarer, Zeit  wie z.B. Ruth Cohen, (themenzentrierte Interaktion), Emmi Pikler (Bewe- gungsentwicklung des Kleinkindes) oder Charlotte Selvers (Sensory Awareness), mussten jedoch emi- grieren. Die Atemarbeit selbst aber wurde 1936 im Berliner Reichsinstitut, dem “Deutschen Insitut für psychologische Forschung und Psychotherapie”.gleichberechtigt zur Psychotherapie instittutionalisiert und war damit nach 1945, vie so vieles aus der deutschen Geistestradition, das durch die Nationalisozialisten  transformiert worden war, diskreditiert.

Seit den sechziger Jahren kam vieles von Gindler Angeregtes gewandelt und psychoanalytisch transformiert aus den USA zurück in die Bundesrepublik und wurde zum inspirierenden Ausgang für die Entwicklungen der Körperpsychotherapie. Das Atmen war nach 1945 für viele nur noch im Gewand der Körperpsychothera- pie genießbar. Die galt dann besonders, nachdem die studentische Jugendbewegung in der Folgezeit von 1968 kulturell wirksam wurde. Die durch die psychotherapeutischen Hermeneutik angestoßenen und gerade von den Emigranten mitentwickelten Kommunikationspraktiken, die inzwischen einen breiten Eingang in die dynamischen Sozialeinheiten gefunden haben – die staatlichen Bürokratien beginnen sie nun auch für den Schulbereich zu verordnen -, sind jedoch ohne die frühen Ateminspirationen, die in die Humanistische Psy- chologie eingeflossen sind und weiterentwickelt wurden, gar nicht zu denken.

Aber dadurch Körperpsychotherapie, die sich im Dualismus von Körper und Seele bewegte, wurde der eigentliche Kern des Anliegens der frühen Leib- und Atempädagogik aufgegeben, die im Atem jenes Terrain aufsuchte, auf dem Körper und Seele ineinander übergehen und ein „gemeinsames Drittes“ bilden. Dieses aber kann man nur beeinflussen, wenn man es wachsen und sich die Person durch die Atembewegung erfüllen lässt, ohne dass sich dem Atemerleben ein Ich entgegensetzt, das nun beobachtet, interpretiert, versteht und beabsichtigt. Die kritische  Reflexionskultur der alten Bundesrepublik wollte vom präreflexiven Leib-Erleben part tout nichts wissen und bemerkte in ihrer antifaschistischen Erinnerungskultur nicht, dass hier mit verschiedenen Methoden historisch entscheidend Neues geschaffen worden war, das sich darin traf, wie das Bewusstsein auf den Atem oder die Gegenwelt  zu richten war, um die individuellen Potenzen des Individuums zu entfalten.

Die Beschäftigung mit dem Atem wurde lange Zeit als eine unakzeptable Huldigung des Irrationalismus gehalten, welche die Aufklärung hintergeht und das Sachliche und Logische für eine neoromantische Naturbewältigung preisgibt. Der Argwohn, geschürt durch die Frankfurter Schule, in der die marxistische Geschichtsschreibung von Georg Lukacs weitergeführt war, besteht auch heute noch immer, dass im Appell an krisenhafte Bewusstseinslagen durch das Atmen beliebige Empfindungen für ein mystisches Geraune aufbereitet und in den Ersatz sakraler Gebräuche gesetzt werden. Und gerade in diese in der alten Bundes- republik aufgebauten Bewusstseinslagen hat sich nach 1989, als jede radikale Gesellschaftskritik diskre- ditiert erschien, ein technokratisches Bewusstsein hineingeschoben, das in seinem Machbarkeitswahn alle lebensweltlichen Prozesse vereinnahmt und im Gesundheitswesen alles hinausschießt, was im Bereich des unmittelbar Lebendigen durch heilkundliche Praktiken ans Licht gehoben worden ist.

Karoline von Steinäcker zieht nicht diese dem Zeitgeist der späten Bundesrepublik genehme Trennungslinie, der sich seines Verdikts der Irrationalität so sicher ist, mit dem er das Atmen, die Leibphilosophie und die mit der Jugendbewegung zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts aufgebrochene Zivilisationskritik schlechthin belegt. Indem sie ihr Thema auf den Zeitraum von 1900 bis 1933 beschränkt, legt sie ein vermintes Ideengelände frei, wodurch das Material sichtbar wird, das es erstmals zur Kenntnis zu nehmen gilt. Dabei legt sie sich in der Interpretation eine Selbstbeschränkung auf. Sie bestärkt noch nimmt sie die Unsicherheit des Zweifels, ob nicht das, was vor 1933 in diesem Bereich war, teilweise auch als eine Vorbereitung für den Nationalsozialismus gelten könnte.

In der Tat sind auch einschlägige Verbindungen feststellbar. Die innere Zuwendung zum Natürlichen und zum Leib wurde durch die Nazis in eine körpertechnische Ertüchtigung umgeformt. Es entstand der Körper- kult des Industriezeitalters, der den Kämpfer, den Arbeiter und den Soldaten adelte. Der individuums- zentrierte Aspekt des Atems, der das Solitäre pflegt und das individuelle Atem-Ich meint, sollte in der nationalsozialistischen Kollektiventwicklung zwar völlig untergehen, während aber der Verbindungsaspekt des Atemleibes geradezu durch den Nationalsozialismus verpflichtet wurde.Doch es bringt nichts mehr, die ausgeleierten Schallplatten der antifaschistischen Ideologiekritik aufzulegen. Ja selbst die Zeit, in welcher der Feminismus noch weiterführte, scheint zu Ende zu gehen. Beide politische Strömungen gründen auf halbierten Anthropologien, die schon immer die Ambivalenzen der  doppelaspektivischen Grundbestimmung der Conditio humana verfehlten.

Nicht nur das Solitäre ist im Atem enthalten. Aus ihm geht zudem das Faszinosium der Bewegung hervor, die gemeinsam zustande kommt und durch die kein einzelnes Ich mehr identifizierbar ist. Im Atem ist zudem die pathische Leibesdimension angelegt, wegen der der Mensch gar nicht mehr egoistisch sein kann. Er ist dann unverrückbar parteiisch, wenn er mit dem anderen ohne Ich-Distanz verbunden und gerade darin auf diesen personal bezogen ist. Darauf dass das Menschliche im Zwischenmenschlichen gründet, stößt uns unabweisbar der Umgang mit dem Atem.

So gesehen stellt sich die Frage um die Atempraxis, die als Erfahrungsgebiet im vergangenen Jahrhundert erschlossen wurde, in einem völlig anderen Gewande: Wir sehen mit Frederik Buytendijk, dem prominenten Psychologen und Biologen, der dem anthropologischen Denken in der Physiologie verbunden war, die “eigentliche anthropologische Frage” gestellt. Sie ist für die heutigen Probleme der Lebenswissenschaften sowie der lebensweltlichen Entwicklungen in den sozialen Gesellungseinheiten richtungsweisend werden.

Die Studie von Steinaecker macht auf eine vergessene geschichtliche Entwicklung aufmerksam, die nicht einfach zu den Akten zu legen ist. Denn die frühen deutschen Jugendbewegungen haben Kreatives in die Welt gehoben, die von der Gesellschaft noch nicht angeeignet worden sind. Von Steinäcker dringt in den geschichtlichen Nebel eines nahezu unbekannten Erfahrungshorizontes vor Hitler ein und durchbricht eine Aura von Mystik und Geheimnis, welche die Anfänge der Atem- und Leibarbeit umgibt. Indem sie das geschichtliche Atemleibthema nicht direkt als Vorläuferthema zum Nationalsozialismus thematisiert, sondern über die verdaulichere Frauenfrage aufschließt, erhellt sie nicht nur die kaum bekannte Herkunft der Körperpsychotherapie, die sich aus der frühen Atemarbeit entwickelte, sondern gibt nebenbei dem Geschlechterdiskurs mehr Transparenz.

Ihre Untersuchung beginnt mit einem geschichtlichen Überblick zur Bedeutung des Atems im alten China, Japan, Indien und Griechenland. Aus dieser in geschichtlich vergangener Zeit kundgetanen Beschäftigung mit dem Atem, die in dem Übergang der archaischen Zeit zum geschichtlichen Beginn des Mythos und der Religionen wurzelt, wagt von Steinaecker den Sprung zu den verschiedensten Entwicklungen, die im 19. Jahrhundert einsetzten. Sie notiert in ihrem sorgfältig recherchierten Bericht bislang kaum bekannte Quer- verbindungen zwischen den verschiedenen sozialkulturellen Bewegungen und gegenseitigen Anregungen durch die geistigen Strömungen im Laboratorium der Weimarer Republik. Als Anhang legt sie Kurzbiografien der Atem-Pionierinnen vor.

Noch ein weiterer geschichtlicher Zusammenhang wird deutlich, der wenig bekannt ist und uns wieder darauf hinweist, dass das Atemthema noch keinen sozialen Ruhepunkt gefunden hat. Viele Inspirationen der Reformpädagogik wurden aus den praktischen Entdeckungen der Atemlehrerinnen gespeist. Auch hier existiert eine kulturelle Untergrundsschwellung, deren weiblicher Anreiz bis heute aus der symbolischen Ordnung der Institutionen ausgeschlossen geblieben ist. Das Atemthema der Verbindung mit dem anderen auch im Schulalltag einzulösen, tut bitter Not. „Mitgehen mit dem anderen“ wäre das Schlagwort, für eine Pädagogik, die mit dem barbarischen Brauch bricht, Kinder auszuselektieren, was sie schon im frühen Alter nachhaltig demütigt und was dann doch nur präsige Mittelmäßigkeit in der „Elite“ hervorbringt.

Was heute in Deutschland nur in einigen selbstverwalteten Versuchsschulen oder Reformprojekten und besonders in der Walddorfschule gelingt, dass man nämlich erst nach dem achten Schuljahr Zensuren verteilt werden und es nicht dieses Unterwerfungsinstrumentes für eine gedeihliche Lernatmosphäre bedarf, ist in Schweden und Finnland realisiert. Im sozialistischen Schweden wird die Hälfte des Lernstoffes individuell mit dem Schüler verabredet und die Hälfte eines Jahrgangs wird zur Hochschulreife geführt. In Finnland wird ein einheitliches Klassenniveau erhalten, indem zusätzlicher Förderunterricht erteilt wird. Der erfolgreich praktizierte Verzicht auf Notengebung wird in der deutschen Öffentlichkeit systematisch aus der inzwischen aufgebrochenen Diskussion herausgehalten. Den meisten deutschen Lehrern treibt es die Schamröte ins Gesicht, würde man sie fragen, wie sie denn ihren Unterricht anlegen müssten, wenn sie keine Noten geben dürften.

„Alle Heilung geht durch den Atem“ (Paracelsus). Die alte naturheilkundlichen Idee, durch die Ordnung einer Grundfunktion (Bewegung, Atmung, Seele, Ernährung) den ganzen Organismus wieder zu seiner optimalen Regulation zu verhelfen, hatte auch sein besonderes Atemgesicht, in das auch damals die Homöopathie schaute. Die ärztlichen Atemtherapeuten, deren Geschichte in von Steinäckers Studie draußen bleiben mussten, verabreichten auch homöopathische Medikamente, deren Wirkung sie an der Atembewegung ablesen konnten. So einfach kann es erscheinen, wenngleich auch gerade die Entwicklung der Naturheilkunde und Homöopathie fortgeschritten ist und viele Heilhindernisse inzwischen erkannt sind. Doch gerade die Entwicklungen in der modernen Alternativmedizin führen den naturheilkundlichen und homöopathischen Regulationsgedanken auf einem Atemnenner weiter. Das Ch’i der chinesischen Meridiane und die Homöopathie wurden durch die Elektroakupunkur im Interesse der Mobilisierung der Selbstheilkräfte miteinander vermählt.

Die Krise der Medizin wird immer noch vordergründig als Ökonomiefrage wahrgenommen und die techno- kratische Rationalisierung nimmt einer Alternativmedizin die institutionellen Möglichkeiten ihrer Weiterent- wicklung. Aber welche geschichtliche Berechtigung hat ein Medizinsystem – und hier wären wir nochmals pointiert bei der Frauenfrage – dessen weibliche Approbanten im Alter zwischen 40 bis 55 mit Abstand die größte Gruppe sind, die durch Selbsttötung aus dem Leben scheidet? Wird hier das menschliche Ver- bindungsbedürfnis, das ein weibliches Prinzip der menschlichen Existenz darstellt und wie kaum sonst so stark im Umgang mit Patienten gefordert ist, durch den Paternalismus der medizinischen Institutionen verletzt?

Die westliche Atemarbeit mit ihren heil- und lebenskundlichen Inspirationen konnte sich bislang noch an keinem sozialen Ort niederlassen, der ihr eine institutionelle Konsolidierung ermöglicht. Indem sie die in Vergessenheit geratenen „Luftsprünge“ in das Licht der Gegenwart gehoben hat, leistet Karoline von Steinaecker einen grundlegenden Beitrag zu dieser anstehenden Aufgabe. Viele geschichtlichen Inspirationen sind im vergangenen Jahrhundert aufgezehrt worden. Offenbar gilt dies für das Atemthema noch nicht. Der Karlsruher Kulturphilosoph Peter Sloterdjik diagnostiziert, dass „manches ... dafür (spricht), dass eine Zeit der „Atmer“ vor uns liegt.

Zur Autorin:
Karoline von Steinaecker (geb. 1949) studierte Garten- und Landschaftsplanung an der Technischen Universität Berlin. Nach der Ausbildung zur Atempädagogin bei Ilse Middendorf war sie ein Jahr lang deren Assistentin. Seit über zwei Jahrzehnten ist sie als freiberufliche Atemtherapeutin tätig. Acht Jahre lang war sie Vorsitzende des Berufsverbandes der Atempädagogen. Seit 1989 hält sie zum Thema Atemtherapie Vorlesungen im Fachbereich Ernährungswissenschaften der TU Berlin. Sie absolvierte außerdem ein Ergänzungsstudium der Unterrichts- und Erziehungswissenschaften an der Technischen Universität Berlin, das sie mit einer Promotion abschloss, aus deren Umarbeitung die “Luftsprünge” hervorgingen. Zur Zeit arbeitet sie an einer Studie zur Prüfung der Wirksamkeit von Atemtherapie bei Asthma bronchiale, die von Prof. Malte Bühring, Inhaber des Lehrstuhls für Naturheilverfahren an der Freien Universität Berlin, betreut wird.

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