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Die Atembewegung. Wie der Körper zum Leib wird

[Vegetativum] [Psychotonus] [Chin. Meridianlehre] [Atemgestalt] [Atempsychologie]

 Der nachfolgende Essay von Markus Fußer ist die gekĂŒrzte Fassung eines Artikels, der im
“Handbuch der Körperpsychotherapie”
Herausgegeber G.Marlock und H. Weiss
Schattauer Verlag fĂŒr Medizin und Naturwissenschaften, Stuttgart 2006

erschienen ist. In diesem geben sechzig international renommierte Körperpsychotherapeuten einen imposanten Überblick ĂŒber die Entwicklungen der vergangenen dreißig Jahre auf diesem Gebiet.

 

I n h a l t:
PhÀnomen Atem
Die VerschrÀnkung des Bewusstseins mit der Leiblichkeit
Die Gammanervenfaser in den Muskelspindeln
Die Atemwirkung von Lösungsarbeiten
Der Antrieb und der Trieb
Das Bezogensein und das Zusammenspiel der Atemmuskulatur
Die Atemgestalt als Verhaltensweise

 

 

PhÀnomen Atem

Als Alltagserscheinung ist uns das Atmen kaum bewusst. Mancher muss erst ausdrĂŒcklich darauf hinge- wiesen werden, dass beim Atmen eine Bewegung entsteht, die wir normalerweise ĂŒberhaupt nicht wahr- nehmen. Das Atmen zeichnet sich geradezu darin aus, dass fĂŒr sein Funktionieren keinerlei Bewusstsein nötig ist.

Die Atembewegung steht wie alle inneren VorgĂ€nge keineswegs stĂ€ndig im Bewusstsein. Ein hĂ€ufiges Selbstbeobachten des Atmens wĂŒrde die Aufmerksamkeit zwischen Innen- und Außengerichtetheit auf- spalten und das unmittelbare Erleben bei bĂŒndiger Existenz in der Welt durch einen Bewusstseinsakt unterbrechen. Auch die Atembewegung lĂ€uft bestens ab, solange wir sie nicht spĂŒren, sie unbeobachtet bleibt und nicht in sie eingegriffen wird.

Das eigene Atmen fĂ€llt im Normalfall allenfalls in extremen Lebenslagen auf. Wenn beispielsweise die Brust wogt, weil sich ein erregender GefĂŒhlszustand affektiv steigert, man sich außergewöhnlich wohl fĂŒhlt oder das Herz vor Freude ĂŒberfließt. Oder wenn sich ein Stocken des Atems aufdrĂ€ngt, weil die Darstellung eines Ausdrucks misslingt oder der Vollzug einer Handlung gestört wird. Bei extremer BedrĂ€ngung kann es einem gar völlig den Atem verschlagen. Vor Aufmerksamkeit wiederum kann man durch ein spannendes Ereignis derart gebannt sein, so dass atemlos der Mund aufgesperrt wird.

Emotionen drĂŒcken sich im Atem aus: Trauer macht ihn tief und Ärger bringt ihn hoch. Ein Erschrecken hĂ€lt ihn an und bei einer manifesten Angst zittert er am Brustbein. Bekannt ist zwar, dass wir unbewusst Stim- mungen anderer ĂŒbernehmen, eine freudige AtmosphĂ€re Wohlbefinden erzeugt und eine beklemmende nie- derdrĂŒcken kann. Dass wir aber eine solche Teilhabe wesentlich ĂŒber das Atmen vollziehen und das aus- tauschende Mitatmen ein MitfĂŒhlen des eigenen Leibes ist, davon kĂŒndet vor allem der kulturelle Fundus. Aber nicht nur Dichter und Schriftsteller, Theologen und Philosophen wissen um den Transzendenzcharakter des Atems. In diesem sind die im vergangenen Jahrhundert in Deutschland entwickelten und in Atemschu- len konsolidierten Methoden begrĂŒndet, aus denen auch körper(psycho)therapeutische Verfahren her- vorgingen.

Zwischen der Atembewegung und den GemĂŒtslagen besteht zweifelsohne ein enger Zusammenhang. Wenn damit mehr ausgesagt werden soll, als dass seelisch-geistige Regungen einen physischen TrĂ€ger in der Atembewegung haben, so kann dennoch kaum von einer eigenstĂ€ndigen Psychologie des Atems gespro- chen werden. Denn die Wissenschaften haben zwar schon frĂŒh einige seelische GesetzmĂ€ĂŸigkeiten im Atem gefunden, aber letztendlich konnten davon viel zu wenige durch die vornehmlich gestalt- theoretischen Untersuchungen empirisch gesichert werden. Soll der Atembewegung dennoch ein echter Ausdruckscha- rakter der Seele zukommen, so muss sie das innere Band der menschlichen Verfassung knĂŒpfen, unter dem nicht weniger verstanden werden soll wie die Zusammenkunft der vitalen Antriebe mit dem emotionalen Erleben, der bewussten Willentlichkeit und dem kognitiven Aufnehmen sowie Verarbeiten.

Wenn die Antriebs- und Willenslage, die Empfindungen, die GefĂŒhle und die Maße der Aufmerksamkeiten in der Atembewegung verankert sein sollen, so ist uns aufgegeben, vom Körper in seiner Beziehung zum Leib zu sprechen. Körper und Leib sind keine zweierlei Materialien. Den Körper hat man, indem man ĂŒber ihn verfĂŒgt. Den Leib ist man als Befinden. Der Körper ist Substanz und der Leib Relation. Leib konstituiert sich nĂ€mlich als sensorische VerschrĂ€nkung von Innen- und Außenwelt, wodurch er als Atemleib zum Bildner von SphĂ€ren wird. WĂ€hrend man den Körper untersuchen, analysieren und vermessen kann, zeigt uns der Leib, wie etwa eine Bewegung aussieht. Weshalb kann leiblich sichtbar werden, dass im Ablauf der Atem- bewegung eine personenbezogene und sinnhafte Relation existiert?

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Die VerschrÀnkung des Bewusstseins mit der Leiblichkeit

Der Atem wird ĂŒber seine vegetative Atemfunktion hinaus bedeutsam, weil diese engstens mit dem mus- kulĂ€ren Spannungsaufbau verknĂŒpft ist. Das Atemzentrum ist zunĂ€chst rhythmusbildender Teil der Formatio reticularis. So wird das Nervengeflecht genannt, das aus dem Hirnstamm hochzieht und die Tonusregulation mit allen anderen zentralnervösen Instanzen des Gehirns verschaltet.

Die Weckfunktion der Formatio reticularis, nach der es sich ergibt, wie wach oder mĂŒde wir uns fĂŒhlen, ist seit 1949 bekannt und wurde spĂ€ter in ihrem medialen Kern identifiziert. Die beiden Italiener Horace Magoun und Giuseppe Moruzzi waren bei einem Tierversuch mit einer Katze auf den inneren Zusammenhang zwi- schen Muskelspannung und Wachheit gestoßen. Erregungs- und ErschöpfungszustĂ€nde korrespondieren demnach mit einer muskulĂ€ren Tonuslage. Wenn man beispielsweise ein schlĂ€friges Kind auf die Beine stellt, wird es deshalb hellwach, weil Reflexe einsetzen, welche automatisch vor allem die Spannung der StĂŒtz- und Haltemuskulatur erhöhen. Da durch diese materielle Einlagerung des menschlichen Organismus in die Schwerkraft das gesamte Nervensystem angeregt wird, spricht man von einem ‚aufsteigenden retiku- lĂ€ren Aktivierungssystem’, das durch das Hormon Dopamin gesteuert wird. Die Physiologie kennt diesen Sachverhalt auch als Aufbau eines Lagetonus. Und die Atempsychotonik eines Volkmar Glasers hat dieses Zusammenhang im Sondermeridiansystem entdeckt. In ihm grĂŒndet alles vital-sensorische Raumverhalten, die Ausdehnung und die Positionierung, in seinem atmosphĂ€renbildenden Charakter.

Anfang der achtziger Jahre wurden von dem niederlĂ€ndischen Gehirnforscher Rudolf Nieuwenhuys zwei weitere Subsysteme der Formatio reticularis, welche die Tonusregulation komplettieren, in ihrer bioche- mischen Architektur nĂ€her untersucht. Im blauen Kern der RetikulĂ€rformation wird ĂŒber Anpassungspro- zesse des Muskeltonus entschieden, wie eine Situation mit Aufmerksamkeitsleistungen bedacht wird, ob Wichtigem gelassen oder angestrengt nachgegangen wird und ob etwas als Unwichtig aus dem Feld der muskulĂ€ren Sinnesverarbeitung heraussortiert oder auch verdrĂ€ngt wird. Mit der psychotonischen Aufmerk- samkeitsfunktion dieses retikulĂ€ren Hirnkernes existiert eine mit dem Hormon Noradrenalin bedachte Schnittstelle zwischen bewusster Wahrnehmung des Ichs und unbewusster Ausrichtung der SinnestĂ€tigkeit durch phasenweise sich organisierende Muskelspannungen, die auf das Zusammenspiel zwischen Umweltanregungen und Innenantriebe reagieren. Auch hier ist ebenso ein Zusammenhang mit dem Sondermeridiansystem gegeben, wie in dem dritten Subsystem der RetikulĂ€rformation.

Dieses dient der Erinnerung, die das geistige Vermögen zum GedĂ€chtnis orientiert. Über den Muskeltonus wird markiert und in den Raphnekernen mit einem intensivierten Serotoninstoffwechsel bedacht, was be- kannt oder unbekannt ist. Mittels der Erinnerung können Prozesse der personalen Reifung in der ureigenen Lebensthematik sowie der Abstimmung mit dem Erreichbaren und Bemerkbaren im Sinnenfeld organisiert werden. Lernprozesse können deshalb ĂŒber die Erinnerungsfunktion des Muskeltonus eine biografische Integration erfahren. Es kann ein Inneres reifen, das gegenĂŒber Ă€ußeren Reizanforderungen widerstĂ€ndig ist. WĂŒrde der Mensch wie ein durch Ă€ußere Reize auslösbarer Reflexautomat funktionieren, der dem Behavio- rismus zufolge ohne ein selbstĂ€ndiges Seelenleben auskommen kann, brĂ€uchten auch keine unabĂ€nder- lichen Informationen der Außenwelt mit vergangenen Erfahrungen abgeglichen zu werden.

Der Umgang mit der Empfindung in der Atemarbeit und mit der Emotion in der Körperpsychotherapie beruht letztendlich auf diesem psychotonischen Dreiklang von Wachheit, Aufmerksamkeit und Erinnerung. Ohne ihn dĂŒrften weder die emotionalen Dynamiken des Seelenlebens noch die kognitiven Mechanismen des Wahrnehmens, des Willens und des Entscheidens zu begreifen sein. Die RetikulĂ€rformation ist als Durch- gangsstelle fĂŒr alle mental bedeutenden Informationen „wesentlich am Entstehen von Bewusstsein beteiligt“ (Gerhard Roth).

Im Unterschied zu den jeweiligen Empfindungsreihen, die durch das Sehen, Hören oder Tasten, sowie Rie- chen und Schmecken nur zeitweise vorkommen, erzeugt die Atembewegung entsprechend der Tonus- lage, dem Grad der ElastizitĂ€t sowie der Beweglichkeit des Gesamtorganismus Hintergrundsempfindungen, die stĂ€ndig vorhanden sind. Diese Hintergrundempfindungen, die durch die Spannungen und Druck erzeugende Atembewegung ausgelöst werden, fundieren als Ganzheit zweifelsohne das Erleben. Demnach mĂŒsste die eigentliche bewusstseinstheoretische Frage, wie das Erleben der symbolischen Ordnung in der ĂŒberindivi- duellen Wirklichkeit mit dem neuronalen Zustandekommen eines Bewusstseinsaktes verschrĂ€nkt ist, im Atemthema seine Antwort finden.

Was inzwischen fĂŒr viele Hirnforscher als erwiesen gilt, „dass der Restkörper fĂŒr das Gehirn mehr leistet als nur UnterstĂŒtzung und Modulation“ (Antonio Damasio), davon kĂŒnden schon immer die spirituellen Atemleh- ren des Ostens. Das Erfahrungsgebiet der im Deutschland des vergangenen Jahrhunderts entwickelten Atemschulen und die Vorteile der Körperpsychotherapie gegenĂŒber der Tiefenpsychologie können ĂŒberhaupt nicht geltend gemacht werden, solange sie in ihrer Bewusstseinsdynamik unverstanden bleiben. Wenn man jedoch den dramatisch falschen Annahmen der klassischen Neurophysiologie folgt, wonach der Geist in der Hirnzentrale sitzen soll, um in hierarchischer Ordnung zu entscheiden, was dezentral nur noch in der zwangsweisen Abfolge von körperlichen Reflexen auszufĂŒhren sei, wĂ€re es unmöglich, â€žĂŒber den Körper die Seele (zu) heilen“ (Gerda Boyesen) oder „Bewusstheit durch Bewegung“ (Mosche Feldenkrais) wandeln zu können. Auch die „Therapie der Seele durch die Arbeit mit dem Körper“ (Alexander Lowen) wĂ€re lediglich ein momentanes VerrĂŒcken des Befindens, das je nach Belieben zum affirmativen oder gesellschaftskritischen Umbiegen von Seelenhaltungen genutzt wĂŒrde.

Zum Problem soll uns werden, wie in der sensorischen VerschrĂ€nkung des menschlichen Organismus mit der Ă€ußeren Gegenwelt die Atembewegung variiert werden kann, ohne dass zunĂ€chst das Gehirn beteiligt ist. Denn die Atembewegung antwortet ĂŒber die VerĂ€nderung von muskulĂ€ren Spannungslagen in einzelnen Muskelpartien selbstĂ€ndig auf die Innenantriebe und das Geschehen in der Umwelt, um dadurch die For- matio reticularis und – falls es noch möglich und nötig ist – auch das Bewusstsein ĂŒber die eigenstĂ€ndigen BedĂŒrfnisse der Leiblichkeit zu informieren.

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Die Gammanervenfaser in den Muskelspindeln

Der Aufbau der muskulĂ€ren SpannungsverhĂ€ltnisse dient zunĂ€chst dem Schwerkraftausgleich. Über den automatischen Reflexvollzug behauptet der Organismus die Konstanz seiner Lage und wird deren Verschie- bungen gerecht. Die dabei beteiligten Muskelsinne genĂŒgen der physikalischen Aufgabe, auf den Organis- mus wirkende ZugkrĂ€fte zu kompensieren, indem sie automatisch Muskeln an- bzw. abschwellen lassen.

Dementsprechend werden mit Hilfe von Dehnungsrezeptoren die MuskellĂ€ngen durch SpannungsverĂ€nde- rungen angepasst. DarĂŒber hinaus reagieren Spannungsorgane in den Sehnen auf Druck, um Belastungen zu kompensieren, die indirekt aus Modifikationen der MuskellĂ€nge hervorgehen. Dabei interessieren vor allem die DehnungsfĂŒhler. Bei ihnen handelt es sich um spindelförmige Nervenorgane, die aus einer von Nervenenden umgebenen Muskelfaser bestehen und deshalb melden können, dass ein Muskel gedehnt oder gestreckt wird. Als Modus der SpannungsverĂ€nderung aber rufen passive Dehnung und ihre Abart, der Druck, auch den Atem hervor, wĂ€hrend das Strecken und Recken dessen Fluss anhĂ€lt.

Uns interessiert zunĂ€chst jedoch die kleinste Reflexeinheit, der Eigenreflex, bei dem der Definition nach das Gehirn bzw. – was hier bedeutsam ist – das Atemzentrum nicht beteiligt ist. Dann spricht man von einem Fremdreflex. Der Eigenreflex kommt durch die AktivitĂ€t des spinalen Reflexbogens zustande, der aus Mus- kel mit Sehnen, Nerven und den Spindeln zusammengesetzt ist. Da schon im RĂŒckenmark die Zellkörper der sensorischen Nervenfasern mit den Motoneuronen verschaltet werden, kann die Beteiligung des Kortex ausgeblendet bleiben, wenn der Körper sofort auf plötzliche Ereignisse reagieren muss, um die Aufrichtung des Menschen gegenĂŒber der Schwerkraft auszubalancieren. Diese informatorische Kurzverbindung ermög- licht sogar, dass bei einer Bewegung die Kontraktionen mit ihrem Ausgleich durch passive Dehnungen hauptsĂ€chlich ĂŒber den spinalen Reflex-Mechanismus geregelt“ (Volkmar Glaser) werden.

Um den Zusammenhang, nach dem das Atmen nicht nur durch vegetative Reize, sondern auch motorisch aktiviert werden kann, wusste bereits die klassische Reflextheorie. Diese wurde 1906 durch Charles S. Sherington mustergĂŒltig ausformuliert, wobei er die von Sigmund Exner entworfene Konzeption der Senso- motorik weiterfĂŒhrte. Exners 1894 erschienener „Entwurf zu einer physiologischen ErklĂ€rung der psychi- schen Erscheinung“ versuchte die Seele in den abgestuften Erregungen von peripheren Nerven und ihren verschiedenen zentralen Vermittlungen zu erklĂ€ren. Sigmund Freuds fĂŒnfzig Jahre unveröffentlicht geblie- bener „Entwurf einer Psychologie“ antwortete auf Exner mit dem Versuch eines Gegenmodells. Freud fragte nach dem eigenstĂ€ndigen psychischen Ursprung neuronaler Erregung und formulierte erstmals die Grund- zĂŒge eines „psychischen Apparats“, der von einer nicht nĂ€her spezifizierten Energie, einer „fließenden QuantitĂ€t“, unterhalten wurde.

Der BegrĂŒnder der Psychoanalyse war zunĂ€chst davon fasziniert, eine Psychologie aus neurologischen Bausteinen zu entwerfen, die ohne das Postulat unbewusster seelischer VorgĂ€nge auskommt, die ihm aus der Lehre von Johann Fr.. Herbarts ( 1776-1841) sowie der Hypnosetherapie bekannt waren. Davon wandte er sich nach und nach ab, nachdem die SubtilitĂ€t der psychischen Erscheinungen nicht mehr innerhalb des neurologischen Begriffrahmens erfassbar war. Innerhalb diesem verzehrte sich noch der ein Torso geblie- bene „Entwurf“. Freuds frĂŒhes Anliegen war, ein Übergangsterrain fĂŒr das Körperliche und das Seelische zu finden, das unterhalb der neokortikalen Steuerung eingelagert ist und das die Bewegungen und die Wahr- nehmungen des Ichs beherrscht.

Die klassische Konzeption der Sensomotorik konnte keine Antwort auf die SubjektivitĂ€tsfrage in der Physio- logie geben. Dies war durch die Aphasiestudien des frĂŒhen Freud, die Gestalttheorie sowie die Biologie nach der EinfĂŒhrung eines Umweltbezuges aufgeworfen worden. Reflexe erschienen in der klassischen Be- trachtung als Differential des Instinkts, weil sie weder durch die Initiative des Subjekts direkt zu beeinflussen noch durch das Bewusstsein auszulösen waren.

Reflexe sind das KernstĂŒck jeder Maschinentheorie vom Menschen. Sie treten dem Beobachter als zwangs- lĂ€ufige VorgĂ€nge gegenĂŒber, weil auf einen Reiz unvermeidlich eine regelmĂ€ĂŸige, stereotype Antwort folgt. Dieser sensorische Reduktionismus blieb solange in Frage gestellt, als noch in der auch vom National- sozialismus kontaminierten philosophischen Tradition der Deutschen einzigartig um das VerhĂ€ltnis von Natur und Kultur gerungen wurde.

Angeregt durch das epochale Werk Martin Heideggers „Sein und Zeit“ entwickelte sich im deutschen Sprachkreis das anthropologische Denken in der Medizin, der Psychiatrie und der Physiologie, das sich versprach, die aufgeworfenen Fragen im VerhĂ€ltnis von Natur- und Geisteswissenschaften einer Lösung zufĂŒhren zu können. Zu diesem Denken, das seine Hochzeit im mittleren Drittel des vergangenen Jahr- hunderts hatte, gab der lebenslange Freund Sigmund Freuds, der Psychiater Ludwig Binswanger, den Startschuss (Binswanger, 1993). In seiner 1940 umfassend konzipierten Gestaltkreislehre legte Viktor von WeizsĂ€ckers die Gewichte im VerhĂ€ltnis der Sensomotorik zur Kognition von der Waagschale der Sensorik auf die der Motion. Demnach ist kurz gesagt die Bewegung Wahrnehmung.

Doch um die Beteiligung des Subjektes an der Organisation der Reflexe auch von ihrer sensorischen Varia- bilitĂ€t treffend erklĂ€ren zu können, musste erst noch das nervale SchlĂŒsselglied entdeckt werden: die Gam- manervenfaser. Dieses neurale Organ wurde durch die skandinavischen Forscher Grandit und Koda im Jahre 1946 histologisch ausgemacht und schließlich in den siebziger Jahren nĂ€her wissenschaftlich erforscht. Mit dem Wissen um das Vorhandensein der Gammanervenfaser war unabweisbar geworden, dass es eine rela- tive SelbststĂ€ndigkeit der muskulĂ€ren Spannungsregulation unterhalb der Gehirnzentralen gibt.

Durch die Gammanervenfaser – nur Menschen besitzen sie! – können die Muskelspindeln, welche die LĂ€n- genverĂ€nderung registrieren, abgestuft innerviert werden. Da die Muskelspindeln intrafusale Muskeln sind, die gleitend und nicht nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip regiert werden, taugen sie zum Aufbau eines ein- zigartigen in sich verstellbaren Binnensystems. Entscheidend fĂŒr die muskeltonische Grundlage der Leib- lichkeit wird, dass aufgrund der möglichen Dauerinnervation der Gammanervenfasern die Empfindungsgra- de der Dehnungsrezeptoren entsprechend der Muskelspannung eingestellt werden. Indem Empfindung und Spannung an der nervalen Peripherie eine Einheit bilden, innerhalb der sie sich gegenseitig bedingen und zueinander verĂ€ndern, werden die Muskelsinne in ihrer Funktion, Reize aufzunehmen und auszublen- den, variabel.

Dem Gewebetonus wird es wegen des Gammanervenfaser-Systems möglich, sich auch als ein eigenstĂ€n- diges Ereignis zu entfalten, das zunĂ€chst rein an der nervalen Peripherie, innerhalb des Reflexbogens zwi- schen Muskel und Nervenaustritten an der WirbelsĂ€ule, stattfindet. Aus diesem Grund wird „das Muskel- system zum Grenzland zwischen der Person und ihrem Umfeld. (...) Der gesamte Leib (ist) das Instrument der Psyche und seine Muskulatur bildet den Klangkörper der Seele“ (Glaser, 1993, S. 128f).

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Die Atemwirkung von Lösungsarbeiten

Spannung kann auf der Ebene des einzelnen Muskels als jener Widerstand definiert werden, den der passiv gedehnte Muskel, der Antagonist, dem bei Bewegungen kontrahierten, dem Agonisten, entgegensetzt. Da- bei ist die Entspannung des zusammengezogenen Muskels vom Lösungsimperativ des auseinandergezo- genen Antagonisten zu unterscheiden. Denn bevor der Antagonist den angezogenen Agonisten in seine Ausgangslage zurĂŒckzieht und diesen dadurch entspannt, wird er durch die passive Dehnung gelöst. Weil dadurch Atemimpulse freiwerden und die Atembewegung hindurchfließt, können LösungsvorgĂ€nge als bioenergetisches Strömen in gedehnten Muskelketten erlebt werden.

Ob Entspannungs- und Lösungsprozesse stattfinden können, hĂ€ngt also nicht nur davon ab, wie die Tonus- regulation des antagonistischen Dehnungswiderstands mit der Kontraktion in allen Muskeln zusammen- spielt. Entspannung ist ein RuhephĂ€nomen. Sie findet auf der Ebene des einzelnen Muskels auf der Kon- traktionsseite statt. Mit Entspannung bezeichnet man außerdem das Absinken der gesamten Spannungs- lage. Lösungen dagegen werden aber nur so lange durch einen energetisierenden Atemfluss unterhalten, als eine gegenĂŒber einer Ruhesituation höhere Grundspannung vorhanden ist. Die erhöhte Grundspannung kommt durch die wache Ausrichtung der Sinne ĂŒber die AktivitĂ€t der Formatio reticularis zustande. Lösung wird in diesem unabdingbaren Verschlungensein mit der Gesamttonuslage zu einem BewusstseinsphĂ€no- men und zeigt sich in einer Haltung gegenĂŒber der Welt. Lösung geschieht nur im guten Kontakt mit einer Sache oder dem wirklichem Zuwendungsverhalten zu einer Person.

Lösungsprozesse sind der normalen Bewegung inhĂ€rent und erlauben eine bessere muskulĂ€re Reaktions- fĂ€higkeit bzw. flexible Reflexantwort. Ihr Vorhandensein oder ihr Ausfall verantworten letztendlich, wie eine Haltung eingenommen wird und ĂŒberhaupt wie eine Bewegung aussieht. Sind zu viele nervale Kontrollimpul- se auf den gedehnten Muskel geschaltet, ist die Spannung zu hoch und die SensibilitĂ€t verringert. Die Bewegung wird angestrengt ausgefĂŒhrt. Affektiv wird eine Abwehrhaltung eingenommen, welche dem Kampf zugehörig ist. Umgekehrt kann der Dehnungswiderstand im muskulĂ€ren GefĂŒge wegen zu geringer Nerven- innervation geschwĂ€cht sein. Bei Schlaffheit besteht ein Fluchttonus, der mit einer zu hohen Empfind- samkeit einhergeht. Ihm entspricht der seelische Erregungscharakter, der entsteht, wenn sich die Person aus der Welt zurĂŒckzieht und ihre innere Beteiligung aufkĂŒndigt. Nur bei einer dem jeweiligen Tun und Lassen gerechten Grundspannung (Eutonie) kann eine variantenreiche und in ihren inneren Gestalten differenzierungsfĂ€hige Vollatembewegung entstehen, die auf der Grundlage eines modulierungsfĂ€higen Gammatonus ihre Lösungskraft entfaltet.

Die verschiedensten Praktiken in der Atem- und Körperarbeit wollen dem Gammatonus zu seinem Recht verhelfen, indem die im normalen Verhalten mitlaufenden, aber unbewusst bleibenden Spannungsmodifika- tionen durch Lösungen ins Empfindungsbewusstsein gehoben werden. Mittels der beiden instrumentellen Grundmittel, der passiven Dehnung und dem Druck, kann das GefĂŒge der unwillkĂŒrlichen Spannungsorgani- sation beeinflusst werden. Passive Dehnung und Druck können unvorstellbar subtil in der Arbeit mit der Hand oder auch der sensitiven Bewegung genutzt werden. Durch wiederholt langsames und beschauliches AusfĂŒhren von Dehnungen, durch Kreisungen, Federungen und Schwingungen, sowie die Einnahme von Dehn-Stellungen können Unterspannungen angehoben und Überspannungen abgesenkt werden. Der Atem kommt ins Fließen.

Diese Praktiken mĂŒssen durch die Brille der klassischen Bewegungslehre unverstanden bleiben. Seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wird von der Physiologie zwar allgemein angenommen, dass es keine eindeutige Beziehung zwischen dem Kommando durch die Gehirnzentrale und der daraus resul- tierende Bewegung existiert, weshalb der zentralnervöse Impuls im Interesse der Bewegungskoordination dezentral korrigiert wird. Aber es wĂŒrde fĂŒr die Physiologie „einen völligen Paradigmenwechsel bedeuten, sollten die Bewegungsfunktionen ĂŒber vitale LösungsvorgĂ€nge statt ĂŒber Kontraktionsmuster beschrieben und erklĂ€rt werden“ (Volkmar Glaser)

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Der Antrieb und der Trieb

Das Zwerchfell wird beim Einatmen in den Bauchraum hineingezogen, um zusammen mit der Aufdehnung der Zwischenrippenmuskulatur Raum fĂŒr die sich fĂŒllenden LungenflĂŒgel zu schaffen. Im Raum zwischen dem sich absenkenden Zwerchfell und dem mitschwingenden Beckenboden (Beckenzwerchfell) bildet sich eine Spannung fĂŒr den menschlichen Antrieb. Er wird als Vitalkraft durch die Einatemweitung des Beckens aufgebaut und beim zurĂŒckschwingenden Ausatmen freigesetzt.

Durch die Aufdehnung des Bauchraums entsteht eine vitale Kraft, die von einem Punkt ausgeht, der entspre- chend der Anatomie und dem Gewebetonus etwa 2-3 cm unterhalb des Nabels in der Mitte einer gedachten Ebene zum Kreuzbein liegt. Dieser Punkt fĂ€llt mit dem Schwerpunkt des Körpers zusammen. Er ist bei einer Vollatembewegung der Atemimpuls deutlich spĂŒrbar. Ebenfalls kann erlebt werden, wie in den Atem- impulspunkt eine Verdichtungsempfindung zurĂŒcklĂ€uft, die mit dem Schmalwerden der LeibwĂ€nde in der zurĂŒckschwingenden Ausatembewegung entsteht.

Ist eine derartige Atemzentrierung im Becken vorhanden, kann man von einer bioenergetischen „Erdung“ (Alexander Lowen) sprechen. Karlfried Graf DĂŒrckheim benennt eine „Erdkraft“ und sieht in dieser Verdich- tung der Atembewegung in einem Atemraumzentrum die „Erdmitte“. Der Zen identifiziert deren Vorhanden- sein als „Hara“, wenn sich der Bauch unterhalb des Nabels wölbt. Durch „Erdung“ bauen wir einen Lage- tonus auf. Er erlaubt, sich in einem Raum zu positionieren und ĂŒber sich hinaus zu leben. Dieser anthropo- logische Sachverhalt liegt einem SchlĂŒsselbegriff der Philosophischen Anthropologie zugrunde, den Helmuth Plessner 1928 unter dem Namen „exzentrische PositionalitĂ€t“ eingefĂŒhrt hat

Da beim Ausatmen der gesamte Rumpf schmal wird und sich gleichzeitig das Zwerchfell als Leibzwischen- wand hebt, entsteht ein Auftrieb. Die nach oben gerichtete Bewegung wirkt wegen der AnsĂ€tze des Zwerch- fells an der LendenwirbelsĂ€ule als Haltereflex, der die Aufrichtung stabilisiert. Dieser Zug nach oben wird in der Lehre des Erfahrbaren Atems von Ilse Middendorf „aufsteigender Ausatem“ genannt. Der Antrieb – ganz gleich in welcher Form er erscheint, als ausgerichtete Handlungsstrebung, als gefĂŒhlte Leidenschaft, als explodierender Affekt, als getriebene Gier oder zwanghafte Blockade – kommt ursprĂŒnglich von unten. Da eine energetisch-reflexhafte NĂ€he der Sexualorgane zu dem atemschwingenden Beckenboden gegeben ist, wird auch die mögliche DurchtrĂ€nkung vieler menschlicher Handlungsfelder vor allem bei entgleisten Antrie- ben durch die SexualitĂ€t verstĂ€ndlich.

Das PhĂ€nomen Atem bestĂ€tigt in verblĂŒffender Weise die Triebtheorie der Psychoanalyse und lĂ€sst deren Eliminierung aus Lehre Freuds als eine verharmlosende Einfriedung der seelischen Dynamiken erscheinen. An diesen Stachel erinnert noch immer Wilhelm Reich, der weder das Atmen der lebensreformerischen Stille noch die Psychoanalyse der bĂŒrgerlichen Affirmation ĂŒberlassen wollte. Reich hatte die freudsche Neurosentheorie nicht nur hinsichtlich der muskeltonischen Verfassung charakteranalytisch weitergefĂŒhrt, sondern auch radikal in ihrem sexualtheoretischen Kern gepackt, indem er in den Mittelpunkt seiner Lehre den Orgasmus stellte, bei dem sich als Atemreflex eine aufgebaute Erregung entlĂ€dt und als freiwerdende Lösungsenergie den ganzen Organismus durchfließt.

Aber gerade der Geschlechtsakt macht darauf aufmerksam, dass kein bloß physiologischer Mechanismus eines zu entspannenden Triebes vorliegt. Nur wenn Mann und Frau dazu fĂ€hig sind, sich sensorisch aufein- ander zu beziehen und darin eine sensorische Mitte zueinander finden, können sie die Spannung aufbauen, um zusammen auf einen Höhepunkt zuzutreiben. Der gelungene Orgasmus verweist auf den tiefsten Begeg- nungscharakter in der kohĂ€rent verschrĂ€nkten Gegengeschlechtlichkeit, bei dem die Kontrolle des Ichs ausgedient hat, so dass Mann und Frau unge- brochen durch das Bewusstsein in der Situation aufgehen.

Es kommt ĂŒberhaupt nicht darauf an, was getan, welche Technik praktiziert oder welche Stellung eingenom- men wird. Ohne das gegenseitige Zugewandsein der Personen ist selbst der Kuschelsex lediglich ‚gemacht’ und ein Akt der Instrumentalisierung. Durch das personale Bezogensein durchtrĂ€nken sich gegenseitig die Sinne beim Sich-einander-Geben-und-Nehmen und auch dem gegenseitigen BemĂ€chtigen, wobei in dem sich bildenden Resonanzkreis dem Mann wegen seiner FĂ€higkeit zum Stoß in den Schoß der aggressivere Part zukommt. Wegen des sensorischen Überdeckens des anderen, das auch als ein ‚Ausstrahlen’ und ein ‚Empfangen von Strahlung’ erlebt werden kann, findet der idealtypische Fall des gemeinsam erlebten Orgasmus seine Verwirklichung.

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Das Bezogensein und das Zusammenspiel der Atemmuskulatur

Wenn sich das Zwerchfell nach unten zusammenzieht, bedarf es eines Gegenhaltes in den unteren Rippen. Dieser Gegenhalt muss außerdem zulassen, dass sich auch der Brustkorb seitwĂ€rts weiten kann. Dies geschieht, indem das Brustbein vor dem Einatmen sachte nach vorne geht und auch etwas hochgestoßen wird. Dadurch wird der untere Brustkorbrand tonisch arretiert, was jene so wichtige Beweglichkeit auseinan- derstrebender MuskelkrĂ€fte erlaubt, wenn sich das Zwerchfell antagonistisch zu einer leichten Rippenhe- bung absenkt. Gleichzeitige Hebung und Weitung der unteren Rippen ist das Merkmal jenes tieferen Ein- atmens, das nur im unwillkĂŒrlichen Vollzug einer Vollatembewegung stattfindet.

Sind die unteren Rippen stattdessen muskelkontraktiv festgehalten, bleibt das Brustbein von vornherein un- beweglich. Diese stillgestellten Rippen können sich infolgedessen weder seitwĂ€rts bewegen noch eine Auf- fĂ€cherung der anderen Rippen in der weiterfolgenden Atembewegung einleiten. Der Brustkorb kann nur als Ganzes ohne innere Aufdehnung hochgezogen werden, indem die Atemhilfsmuskulatur an Hals und SchultergĂŒrtel nicht nur leicht mitinnerviert, sondern – dies ist das Merkmal der Notatmung – aktiv einge- setzt wird. Dabei wird die AtemaktivitĂ€t in ihrem dynamischenAspekt beeintrĂ€chtigt, die durch Ein- und Aus- atemimpulse entsteht, die von dynamischen Spindeln in der Zwischenrippenmuskulatur gesteuert werden.

Die Brustbeinstellung jedoch, welche die Rippen beim Einatmen hebt und dadurch ihre Weitung zugleich mit einer Zwerchfellabsenkung einleitet, ist automatisches Resultat einer eutonen Grundspannung, die gegen- ĂŒber der Ruheatmung angehoben und einer fixierten Konzentration abgesenkt ist. Die fĂŒr das Einatmen so optimale Brustbeinstellung in der Bewegung, im Handeln und im Verhalten entsteht aber nur dann, wenn durch ein Ausrichten der Sinne der ĂŒber den gesamten Organismus verteilte Gammatonus durch die Reti- kulĂ€rformation aktiviert wird. Durch die intentionale Sinnesleistung werden die Muskelspindeln endgĂŒltig zu einem Gesamtregelungsapparat, der von der lokalen Reflexfunktion im einzelnen Muskel zu unterscheiden ist.

Erst die gesteigerte Aktionsbereitschaft im Gammatonus lĂ€sst eine dem jeweiligen Tun und Lassen gerech- te Spannung entstehen und befĂ€higt zur Bereitschaftshaltung, die sich als kohĂ€rente VerschrĂ€nkung der BinnenrealitĂ€t mit der Ă€ußeren Gegenwelt organisiert. Der Welt kann sowohl offen gegenĂŒber getreten als auch in der Beziehungsaufnahme zu ihr das GefĂ€hrliche herausgewittert werden, weil die Zustandsbefind- lichkeit im Raum als leibliche VerhaltensqualitĂ€t in das Ich einschießt und die Wahrnehmung des Ich im atembewegten Leib widerhallt. Die retikulĂ€r vermittelte Bereitschaftshaltung wird damit zu einem Bewusst- seinsphĂ€nomen: Wahrnehmung und Welt sind durch das Befinden im vital-sensorischen Raum aufeinander zugeordnet.

Wegen ihrer zentralen Bedeutung wird die Bereitschaftshaltung im asiatischen Kampfsport geĂŒbt. Unter dieser auf GegenwĂ€rtigkeit eingestellten Verfasstheit des Leibes ist eine durch keine spezifische Wertung verformte Wachheit zu verstehen, die weder die Sinne fixiert noch sich auf GegenstĂ€nde oder Personen konzentriert. Bereitschaft stimmt mit dem gelassenen Verhalten einer ‚schwebenden Aufmerksamkeit’ ĂŒberein, durch die hindurch wir mit dem latent Undeutlichen und Diffusen in Beziehung treten können, ohne dass wir von ihm ĂŒberwĂ€ltigt werden. Die leibliche Verfasstheit der Bereitschaft ist durch einen Atemmechanismus fundiert, der eine Vollatembewegung in Gang setzt. Die Atemfrequenz der Bereitschaft wird als eine Sinuskurve aufgezeichnet.

Der Ruheatmung mit ihrer abgesenkten Grundspannung fehlt die geschmeidige VorwĂ€rtsbewegung des Brustbeins, weshalb die Atembewegung den Brustkorb nur leise anschwingt. FĂ€llt die geringe Motion des Sternums wĂ€hrend des Tuns aus, weil eine Zwerchfelltiefstellung begleitet durch Muskelspannungen auf den unteren Rippenbögen vorhanden ist, so versacken die Antriebsimpulse im Bauchraum und können nicht in den Brustraum aufsteigen. Wird in derart defizitĂ€rem Atemzustand dennoch der Brustkorb mit Hilfe der Ein- atemmuskulatur im SchultergĂŒrtel bewegt, werden die Atembewegungen labil. In diesem Fall können in die Motorik kaum innere Antriebe einfließen. Die AktivitĂ€t folgt meist Ă€ußeren Appellen und erscheint dement- sprechend beflissen und auch angestrengt.

Bleibt dagegen bei vorhandener Zwerchfelltiefstellung die Brustatmung auch im Tun zurĂŒckgehalten, ist die Atembewegung trĂ€ge. Der Mensch muss sich mĂŒhsam zur TĂ€tigkeit gegen das körperliche Beharrungs- vermögen aufraffen. Dementsprechend bemĂŒht und auch mĂŒde bewegt er sich. Das Extrem dieser Atem- situation ist das chronische Erschöpfungssyndrom, mit seiner seelischen Einstellung, in welcher der Wille zur TĂ€tigkeit und deren AusfĂŒhrung als auseinandergelegte VorgĂ€nge erlebt werden bzw. jede zustande kommende AktivitĂ€t als befohlen erscheint.

Bei einer angestrengten Konzentration ist das Sternum starr nach vorne gestellt und bei manifester Angst ist es nur noch eng gehalten. Und fĂ€llt die Brustbeinbewegung wegen eines ausgestellten Brustkorbes aus, besteht eine gewohnheitsmĂ€ĂŸige Hochstellung des Zwerchfells. Es bildet sich ein ĂŒberblĂ€hter Hochatem, dem im Becken Atemkraft fehlt. Der habitualisierte Hochatem kann auch Ursache oder Folge der beiden Atemwegserkrankungen Emphysem und Asthma sein.

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Die Atemgestalt als Verhaltensweise

Aufgrund der Allianz von Tonusregulation und Atemsteuerung, in welche die im zwanzigsten Jahrhundert entwickelten und popularisierten Praktiken der Atemarbeit und Körperpsychotherapie jeweils auf ihre eigene Weise eintreten, widersprechen diese auch der gebrĂ€uchlichen Auflösung der Sinnesempfindung in passive Daten, die bis heute in der Psychologie und Physiologie vorherrscht.Empfindungen sind dagegen im exis- tenzphilosophischen Sinne nie Daten einer Substanz, sondern Zeichen der „Befindlichkeit“ in einem vitalen Bewegungsraum, in dem sich „Stimmung zeitigt“ (Martin Heidegger)

Da die Muskelsinne wegen der Gammanervenfaser nicht nur EmpfĂ€nger, sondern auch Sender sind, kon- stituiert sich die Einheit der verschiedenen Wahrnehmungssysteme aktiv im VerhĂ€ltnis von innen und außen, wie der englische Experimentalpsychologe James Gibson erkannt hat. Was spricht noch dagegen, dass dabei die mit der Atembewegung gegebenen Hintergrundempfindungen die entscheidende Rolle spielen. Sie nĂ€mlich informieren das Ich hinsichtlich seiner inneren ZustĂ€nde und bezĂŒglich der Lage und Stellung seines Organismus im Raum, also von vornherein ĂŒber eine sphĂ€renbildendeInnen-Außenbeziehung.

Über die Subsysteme der RetikulĂ€rformation werden millionenfach Informationseinheiten pro Sekunde aus der leiblichen Sinnesorganisation verarbeitet, wobei schließlich nur fĂŒnfzehn bis dreißig Informationsein- heiten bewusst werden. In diesem Transformationsprozess von körperlichen Empfindungen zu seelischen Wahrnehmungen wĂ€re die Auflösung der cartesianischen Problemstellung zu suchen, wie das nicht- rĂ€umliche Bewusstsein aus einem persönlich „gestimmten Raum“ (Ludwig Binswanger, 1993) hervorgeht und sich darĂŒber das Neuronale mit dem Erleben verschrĂ€nkt.

Wenn die Atembewegung zwischen den ZustĂ€nden des Befindens und den Handlungen, Wahrnehmungen, Denk- und Entscheidungsakten des Ich vermittelt, kann eine Empfindung nicht mehr nur eine bewusstseins- lose Reaktion sein, die ĂŒber die Reflexorganisation auf einen lokalen Reiz hin den menschlichen Organis- mus informiert. Dies suggeriert die experimentelle Reflexauslösung, weil in ihr das Ich neutralisiert ist und keine Personenbezogenheit des Verhaltens existieren kann. Im Bezug auf die Gesamtheit der atembeweg- ten Hintergrundsempfindungen kommen subjektbezogene MentalqualitĂ€ten insofern ins Spiel, als das Ich einen Widerhall in den BedĂŒrfnissen der Leiblichkeit erfĂ€hrt. Das Befinden kann deshalb eine Handlung stören oder sie gar untergraben. Eine gegenĂŒber den Absichten des Ichs stimmige Leiblichkeit aber spendet jenen personalen RĂŒckhalt, der zu einem durch das Bewusstsein ungebrochenem Aufgehen in der Welt beflĂŒgelt.

In ihrer Vermittlungsfunktion zwischen Befinden und Ich erscheint die Atembewegung – zugespitzt ausge- drĂŒckt – als eine „Verhaltensweise“, wie der namhafte Psychoanalytiker und Heidelberger Kliniker Paul Christian bemerkte. Indem die mit der Atembewegung gegebenen Hintergrundsempfindungen das Verhalten formen, existiert eine gestalthaft geformte Ganzheit, in welcher der Wille und das Bewusstsein eingeschlos- sen sind. Ilse Middendorf gebĂŒhrt das historische Verdienst, die Atembewegung als gesetzmĂ€ĂŸiges Struk- turgebiet erschlossen zu haben. Demnach werden menschliche Daseinsweisen von Atemgestalten getra- gen, in denen Inneres und Äußeres sich aufeinander beziehen, sich gegenseitig durchdringen sowie ein- ander begegnen und somit eine identische Beziehung eingehen.

Was die Atmung fĂŒr das Verhalten des Menschen bedeutet, wird besonders in den Extremformen der see- lischen Konfliktexistenz deutlich, bei denen die RĂŒckbindung des Ichs an die leibliche Zustandsbefindlich- keit wegen einer paradoxen Zwerchfellbewegung zerfĂ€llt. Der Hauptatemmuskel senkt sich bei dieser Fehl- form nicht wie gewöhnlich beim Einatmen nach unten ab, sondern wird stattdessen hochgezogen. In diesem Moment ist die Erdung als sensorische Verankerung der Aufrichtung in der Schwerkraft nachhaltig gestört. Der mit der Wachheitsspannung direkt verbundene Aufbau eines Lagetonus ist zerrĂŒttet. Wenn aber in einer Situation die GrĂŒndung in der sensorischen VertikalitĂ€t derart mangelhaft ist, bleibt ein „Über-sich-hinaus- Sein“ (Ludwig Binswanger, 1993) versagt. Der „physiologische Reizschutz“ ist in diesem Moment nicht nur partiell, sondern völlig zerbrochen. Völlig ungefiltert „strömen dann dem seelischen Zentralapparat kontinu- ierliche Erregungen zu, wie sie sonst nur aus dem Innern des Apparates kommen“ (Sigmund Freud).

Der Person ist es im Moment der umgedrehten ZwerchfelltĂ€tigkeit unmöglich, durch ihren atembewegten Leib hindurch bĂŒndig mit der Welt zu sein. WĂ€hrend einer echten Bewegungsumkehr des Zwerchfells ist die Person zu nichts mehr fĂ€hig. Ihr Ich zerfĂ€llt in die Geisteskrankheit, die Schizophrenie oder die Perversion, weil es keinen sinnvollen Widerhall in der atemgesetzlichen Struktur des Leibes findet.

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