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Der Atem soll – gebrauchen wir ruhig dieses altmodisch anmutende Wort – gepflegt werden. Durch die Aus- differenzierung der Atembewegung potenzieren
wir unsere vital-sensorischen Verhaltensmöglichkeiten in einem umgebenden Raum, so dass wir das in der Außenwelt uns begegnende Fremde besser in uns ver- arbeiten können, weil es durch das uns selbst unbekannte
Innere angelockt werden kann. Durch zufließen- de Atemkraft wird das im Verhalten Mitgegebene und Verbundene modifiziert. Das zwischenmenschliche Schwebeverhältnisse des Angemutet-werdens wird durch die Atembewegung
ausbalanciert. Und nicht zuletzt ist das Zu- und Abwenden eine Resultante der menschlichen Selbstbewegung, deren Inbegriff die Atembewegung ist.
Durch die Art und Weise des vitalsen-sorischen Einlebens in einer Sphäre, erhalten alle Leistungen des Organismus ihre subjektive Form.
Atemerfahrungen in der westlichen Tradition von Ilse Middendorf interes- siert nicht allererst die Psychologie, die Existenz als seelische Innenwelt, sondern vielmehr die Biologie des Menschen, der sich eine Mitte
im Sinnenraum von Innenwelt und Außenwelt schafft. Dazu lässt der von dieser westlichen Atempionierin entwickelte Atemweg den Gegensatzes zwischen Körper und Seele links liegen. Er führt stattdessen zu einem Feld
von verwobenen leiblichen Resonanzbeziehungen mit dem anderen, auf dem die sprachliche Distanzierung von Subjekten und Objekten soweit kein Recht hat, als sie uns – was meist geschieht – aus dem Erleben des
unmittelbar Gegebenen reist.
Dieses Eingebettet sein des Lebendigen in eine vital-sensorische Innen-Außen-Relationen macht uns darauf aufmerksam, dass eine innere
Differenzierung der Atembewegung vorhanden sein muss, die keineswegs beliebig sein kann, wenn sie ein wirkliches Wirkprinzip darstellen soll. Deshalb ist ein alter in Vergessenheit geratener Lehrsatz der
phänomenalen Biologie in den Mittelpunkt unserer Überlegungen und Betrachtungen zu stellen: Alles Lebendige ist gestalthaft.
Das Thema einer Atemgruppenstunde oder eines ganzen Wochenendkurses ist eine jeweilige Atemgestalt. Atemgestalten strukturieren das dem Bewusstsein
und dem Willen entzogene Reich eines Wohlbefindens in einem vital-sensorischen Raum, wodurch der individuelle Charakter unseres Verhaltens geprägt wird. Das gesamte Arrangement der Übungsweisen, die innere
Kombination, die Abfolge sowie der Aufbau von Atem- aktivierungen sind im Erfahrbaren Atem von Ilse Middendorf darauf ausgerichtet, Atemgestalten freizusetzen. Die einzelnen Arbeitsschritte erhalten darin eine
sinnhafte Bedeutung.
Über den Aufbau und den Zerfall von Atemgestalten selektieren, verdichten und integrieren sich die vielfälti- gen informatorischen Einflüsse, mit
denen wir als sensibles Wesen in Resonanz mit unserer Umwelt ste- hen. Mit einer guten Spannung geht der nuancierte Aufbau von Atemgestalten einher, wodurch wir die Maße von Nähe und Distanz halten sowie zum
geistesgegenwärtigen Kontakt mit dem anderen befähigt werden. Halten wir fest: Das Thema einer Einheit von Atemerfahrungen ergibt sich dem gemäß aus den struktur- gesetzlichen Formen der Atembewegung. Sie
entsprechen menschlichen Daseinsweisen im existenz- philosophischen Sinn. Wir können auch die Atembewegung mit dem Heidelberger Psychosomatiker Paul Christian als eine “Verhaltesnweise” begreifen.
Mittels langsam ausgeführten Bewegungen, spürsamem Kreisen, Schwingen, Federn, Dehnen und Drücken sowie dem „schweigenden Singen“ von Vokalen, dem
Anschlagen von Konsonanten sowie dem Tönen von Lauten können Intensitäten auf die Atembewegungen hervorgerufen, Atemimpulse freigesetzt und Atemschichten aufgeweckt, Einatemräume erweitert sowie miteinander
verbunden. Die Ausatembewegung erfährt Richtung und kann sich zentrieren. Zunächst folgt der Atem dem sensitiven Umgang mit Bewegungen und Lauten. Wir aktivieren seine Motion mit einfachen, manchmal geradezu simpel
anmutenden Mitteln, damit er auf unser Tun antwortet.
Zu den dabei entstehenden Spannungsempfindungen gilt es, unmittelbare Fühlung aufnehmen, indem wir uns sammeln. Sammlungsbewusstsein ist hingebend
und achtsam. Weder will noch entscheidet es. Wenn sich das Bewusstsein vom direkten Erleben distanziert, indem es beobachtet, bewertet oder sich etwas vorstellt, verliert es diese unmittelbare Fühlung mit der
Atembewegung, auf die es in der middendorfschen Übungsweise ankommt: Durch die Sammlung erhält die Atembewegung erst eine das Leben tragende „Substanz“ erhält. Der Erfahrbare Atem stellt also eine gesammelte
Atemweise dar, wodurch er sich von willentlich eingesetzten Atemtechniken als auch dem unbewusst und unwillkürlich stattfindenden Atemfluss im Handeln unterscheidet.
Durch eine gesammelte Atemweise suchen wir den Kontakt mit jenem antreibenden, energetischen und dynamischen Atemgefüge, über das wir keine
willkürliche Verfügung haben. Der Wille kann nur mitgehen und sich tragen lassen. Von aufgebauten Atemgestalten hängt es ab, wie und ob uns eine Handlung oder ein Verhalten gelingt. Atemformen entscheiden, wie unser
Tun und Lassen aussieht, ob wir Ausstrahlung haben, unsere Stimme beseelt erklingt und unsere Bewegungen, Gesten und Gebärden ausdrucksvoll sind sowie wir eine produktive und kreative Haltung zur Welt einzunehmen in
der Lage sind.
Sich ein ganzes Wochenende einem menschenkundlichen Atemthema zu widmen, ermöglicht außergewöhnliche Intensitäten, an denen jeder nach seinen
Voraussetzungen teilhaben kann. Der Anfänger, der Neugierige und der schon seit langem am Atem Übende haben Gelegenheit, bei sich das energetische Verbindungsgeflecht Atembewegung aufzuwecken, das in vielerlei
Beziehungen einer Atemgestalt zugrunde liegt und eine gelungene Lebenssituation trägt. Diese Konzentration verpflichtet die einfache Aktivierung des Atems mit, den jede längere Arbeit am Stück bewerkstelligt.
Die Konzentration auf ein Lebensthema gibt dem Atempädagogen größere, ihn immer wieder selbst von neuem überraschende Gestaltungsmöglichkeiten. Ein
menschenkundliches Selbstverständnis ermöglicht zudem, über den engen Atemgegenstand hinausreichende Kooperationen im alternativmedizinischen sowie künstlerischen Bereich einzugehen, in denen die Atemkraft direkt
Lebenswirklichkeiten zu bewältigen hilft. Nicht mehr nur die Atembewegung, sondern auch das Gehen, Tanzen, Springen, die Mimik und die Gesten, das Artikulieren, Singen und Sprechen, das Kommunizieren und Verhandeln
sowie das Hantieren, Anfassen und Berühren sollen gestimmt werden.
Bewegt uns der Eigenrhythmus des Atems, wird das Leben wird kostbar. Wir lernen dankbar und demütig dessen Unermesslichkeit entgegenzunehmen.
Atembewegung als Bildner des sensorischen Raums Notizen zu den Atemgestalten Hintergrund, Ichkraft, Nabelfeld und Leibgrenze
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