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Der Personenbezug als Unterscheidungskriterium - Gemeinsamkeiten und Perspektiven

[Gesundheitsprävention] [Atemheilkunde] [Ausdruck] [Kreativität] [Risiken] [Fallbeschreibungen]

Was so wie die Atemtherapie in Medizin und Heilkunde auseinandergelegt und damit an zwei Polen eines Verständnisses angesiedelt erscheint, birgt auch Gemeinsamkeiten. Diese sieht man aber nicht, wenn man das Zweckhafte in den Vordergrund schiebt, das sich institutionell organisiert hat. Das Gemeinsame ergibt sich bereits daraus, dass die ärztlichen Hilfsberufe der Krankengymnastik und der Massage sowie der Logopädie aus der frühen Beschäftigung mit dem Leib und dem Atem hervorgegangen sind, die als frühe Heilpädagogik ein Produkt der bürgerlichen Jugendbewegung war und mit ihrem zivilisationskritischem Duktus viele auch später den Nationalsozialismus mittragenden Ärzte erfasst hatte. Und viele Praktiken die außerhalb der medizinischen Institutionen entwickelt worden sind, sind dann auch immer wieder innerhalb dieser aufgenommen worden. Gerade die Entwicklungen seit den neunziger Jahren bezeugen dies.

Ambitionierte und engagierte Krankengymnasten, Masseure und Logopäden suchten immer wieder den Kon- takt zur westlichen Atemarbeit. Inzwischen gibt es auch in beiden Bereichen ausgebildetes Personal, das rührig ist. Viele dehnenden Übungen, die heute in Presse und Fernsehen als hilfreich gegenüber bestimmten Beschwerden vorgestellt werden, erinnern den Atemlehrer an Bekanntes. Seit den neunziger Jahren sind Feldenkrais-Bewegungsarbeit, Konzentrative Bewegungstherapie, Cranio-Sakrale-Behandlung, Ostheopathie und kinesiologisch angeleitete Energieregulationen nicht nur in die Praxen der ärztlichen Hilfsberufe einge- rückt. Auch Ärzte haben sich darin fort- und ausgebildet.

So hat sich jenseits des kassenärztlichen Organisationsystems längst ieine methodische Kreativität breit gemacht. Diese lebensweltlich gewachsene Realität empfiehtl sich, auf einem ihren anthropologischen An- sprüchen angemessenen Niveau reflektiert zu werden. Dies würde bedeuten, nicht nur zum Beruf des Physio-therapeuten durch ein Studium ausgebildet zu werden, sondern auch der westlichen Atemarbeit einen sozialen Ort in einem Fachhochschulstudium zu geben, das den heilkundlichen Aspekt in der anthropologischen Dimension der Erlebnis- und Lebenskunst aufhebt. Dadurch könnte sich ein institutionell gehütetes und weiterentwickeltes Komplexwissen um die menschliche Natur entfalten, das exakt an der Stelle sich zu organisieren beginnt, wo die wissenschaftliche Kognition von den anschaulichen und in ihrer qualitativen Natur sich zei-genden Prozessen des Lebendigen absehen muss. Ein derartiges Studium dürfte sich nicht allein durch eine naturwissenschaftlich orientierte Medizin legitimieren. Es hätte nämlich so dicht an der unmittelbaren Naturbetrachtung zu sein und auf jener Schwelle zu stehen, von der aus das Lebendige durch eine belauschende Kommunikation beeinflussbar wird.

Die Beschäftigung mit dem Leib und dem Atem war die erste von der bürgerlichen Jugendbewegung mitinspi- rierte geschichtliche Gegenbewegung auf eine Entwicklung, die sich inzwischen auch deshalb zu erschöpfen scheint, weil die gegenwärtige soziale Krise im Zuendegehen der Industriegesellschaft eine Neuverknüpfung der sozialen und natürlichen Bande verlangt. Gespeist von deutschromatischer Tradition war die Jugendbe- wegung der letzte schöpferische Protest des klassischen Humanismus gegen eine Auffassung, welche die Natur nur als ein technisch zu bearbeitbares Substrat ansah, das der Mensch seiner Herrschaft unterwerfen kann. Mit der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Medizin im 19, Jahrhundert war die ausdrückliche Forderung erhoben worden, dass es gleichgültig sein muss, welcher Arzt am Krankenbett steht. Er musste nur zum Erkennen fähig sein. Ohne zivilisationskritischen Wimperschlag wurde der cartesiansischen Emphase gehuldigt: „Der Kranke wird Gegenstand“ (Robert Volz, Der ärztliche Beruf, 1886). Auf dem Boden dieses Modells der Natur- beherrschung wachsen auch heute noch ständig ungeahnte Interventionsmöglichkeiten. Doch es verstellt in seiner anthropologischen Maßlosigkeit den Zugang zum Kranken.

Die Ursprünglichkeit der frühen Heilpädagogik mutierte zur Krankengymnastik und Physiotherapie, die als ärztlicher Hilfsberuf institutionalisiert unter das Diktat der Zweckmäßigkeit und der Sachlichkeit gestellt wurde. Der überindividuelle Rahmen des medizinischen Systems hat die an die jeweilige Person gebundene Sphäre der Heilpädagogik abgelöst. Damit waren die neuentstandenen medizinischen Subsystem der ärzt- lichen Hilfsberufe mit der Auswahlfrage des Geeignetseins konfrontiert, für welche das physiologisch-anato- misch-neurologische Wissen der Medizin keine Begriffe hat und die auch durch kein Prüfungssystem beant- wortet, sondern nur in einer unmittelbaren Beziehung werden kann: Man musste gut anfassen und berühren können, was die sensorische Tiefe des leiblichen Kontaktes mit dem Patienten, des Aufgehens im Dabeisein und im Mitgehen herausfordert. Gelöst hat diese zentrale Frage des Kontaktes bis hinein in ihre zwischen- menschliche Begegnungsdimension sehr wohl die westliche Atemarbeit, weil sie sich von vornherein mit der vital-pathischen Existenz zu beschäftigen hatte.

Paradigmatisch für unsere Thematik ist das Erlebnis des Arztes und Atemlehrers Volkmar Glaser. Nach- dem er alle Massagegriffe erlernt hatte, mit denen sein ärztlicher Lehrer, der Atempionier Johannes Ludwig Schmitt, oftmals den Atem seiner Patienten reflektorisch forderte, musste er feststellen, dass diese bei ihm technisch exakt angesetzten Griffe nichts bewirkten, ja den Atem eines Patienten eher kleiner als größer werden ließ. Glaser ließ es aber nicht wie so viele mit ähnlichen Erfahrungen dabei bewenden. Zu wirkungs- voll hatte er selbst die Atemmassagen erfahren, durch die er aufgemöbeltet worden war, weil sein sensibler Charakter durch die Person des Behandlers aufgefordert worden war. Die Selbsterfahrung war zu tief gegan- gen, so dass aus seiner Enttäuschung ein Engagement erwachsen konnte.

Glaser war auf die Zentralfrage des guten Kontaktes gestoßen. Dieser war nicht allein im Naheliegenden, dem direkten Berühren des anderen mit der Hand zu realisieren. Vielmehr entdeckte er deren sphärische Dimension. Kontakt lebte durch ein sensorisches Verschränktsein von Patient und Behandler. Der Thera- peut musste in der Lage sein, sich transsensisch zu verhalten. Dieses „Über-sich-hinaus-sein“ (Ludwig Binswanger) wird realisiert, wenn die sensorische Leibgrenze über den eigenen physikalischen Körper hin- ausreicht und den anderen mit in den eigenen Raum nimmt. Glaser entwickelte seine Psychotonik, die den eutonen Spannungsaufbau beim Therapeuten als die entscheidende Voraussetzung für dessen Kontakt- und nachdem er sich des diaologischen Kerns der Atemmassage bewusst geworden war, auch der Begeg- nungsfähigkeit ansah. Eine eutone und durch keine voreingenommene Wertung getrübte Bereitschaftshal- tung gestattet dem Therapeuten, dem Patienten einen gemeinsamen sensorischen Raum anzubieten, in dem sich dieser wohl fühlt und das Vertrauen gewinnt, mit seinem Bericht über seine intimsten leiblichen und seelischen Probleme angenommen zu werden.

Wohlgemerkt fand Glaser eine leiblich-sensorische Antwort, die er als vitale Pathie gegeben hat. Der Atemverlangt die Frage des Kontaktes und der Begegnung gerade nicht auf die psychische Ebene der Empathie reduzieren oder wegen augenscheinlicher psychosoziale Hürden sie überhaupt ins Ideologiekritische wegschieben wollen. Der durch die Ausbildungs- und Herrschaftsmechanismen des Universitätssystem in seinem Ich angeeinete und tendenzenll neurotisierte Mediziniertyp wird kaum in der Lage sein, in diese vitale Pathie eintreten zu können. Auch nicht die Subjektivität des Kranken gegenüber der Objektivität der Krankheit trifft die Thematik des zwischenmenschlichen Resonanzraums, der leiblich hergestellt wird. Ohne die Elementarität des sensorischen Aufbau einer therapeutisch-pädagogischen Sphäre gelingt nicht einmal die Verordnungspraxis und schon gar kein zwischenmenschlicher Kontakt der in die menschliche Begegnung übergleiten kannt, die das eigentlich Heilende ausmacht.

Ohne die Realisierung der in der westlichen Atemtherapie gelöste und in den Mittelpunkt gestellte und vor allem durch Volk- mar Glaser in gewissem Maße durch Schulung praktisch lösbar gemachte Frage des vital-sensorischen Miteinanders, bleiben die therapeutischen Praktiken lediglich instrumentell gehandhabte Methoden, die um so unwirksamer bleiben, je dichter sie in der Leiblichkeit ansetzen. Jede herkömmliche Massage, auch die einfache Akupressur oder auch die anspruchsvollere Fußreflexzonenmassage birgt diese Ambivalenz. Sie können letzten Endes auch nur ein Traktieren sein, falls der manuelle Praktiker keinen sensorischen Kontakt mit dem Patienten aufbaute und das Ganze nur technisch macht. Selbstverständlich animiert aber auch die leibliche Nähe geradezu zum naturwüchsigen Aufgehen in der Sache, was aber wiederum zu einer anderen Unterscheidung führt: Der Therapeut kann auch mit dem anderen verschmelzen, wenn er seine unterscheidende Selbstständigkeit aufgibt. Im wird Kraft geraubt. Der Therapeut fühlt sich durch dieses Verteilen von Wellness-Streicheleinheiten zerschlagen. In der westlichen Atemarbeit existiert darum hier ein sehr klares Unterscheidungsvermögen. Den auch vom Atemschüler wird eine Präsenz abverlangt. 0b er mit dieser anwesend ist, zeigt sich sofort in der Atembewegung. Die Atembehandlung belebt bei realisiertem Kontakt beide.

Unter der Oberfläche des vermehrten technischen Einsatzes ist die Frage des Kontaktes im Arzt-Patienten-Verhältnis virulent geblieben, auch wenn der direkten körperlichen Untersuchung und dem ärztlichen Gespräch immer weniger Wert beigemessen wird. Durch das Missbehagen gegenüber den gesetzlich durchgesetzten  Rationalisierungs- und Standardisierungsschüben wird aber das Erleben eines Defizits weiter gesteigert. Die Arzt-Patienten-Beziehung wurde in den siebziger Jahren psychologisch verkürzt kommunikationstheoretisch problematisiert und zwanzig Jahre später wurde dementsprechen der schnell wieder eingestellte Versuch gewagt, auch die sprechende Medizin auf dem Boden des somatisch fach- kompetenten Arztes abrechnungsfähig zu machen.

Doch was ehemals als Weg zu einer besseren Anwaltschaft des Arztes für den Patienten gedacht war und sich den Folgeinspirationen der politischen Studentenbewegung in den siebziger Jahren verdankte, wurde zu dessen scham- losen Ausbeutung umfunktioniert. Hartnäckige Schulmediziner begannen sich offenbar den Mund fuselig zu reden, um sich nicht den angebotenen Abrechungszuschlag entgehen zu lassen. Dies passte zu einem technokratischen Be- trieb, in dem allererst an ökonomische Interessen und dann an technokratische Informationsgewinnung gedacht wird, um das ärztliche Handeln vorgeschriebenen Behandlungspfaden zu folgen hat.

Diesen Entwicklungen entziehen sich die in den Bereichen der ausgesprochenen Erfahrungsheilkunde Handelnden. Ihre Therapien sind inzwischen völlig aus dem Abrechnungssystem der Kassen hinaus gedrängt, wodurch deren Mög- lichkeit zur institutionellen Weiterentwicklung unerträglich eingeschränkt, wenn nicht gar fast völlig zunichte gemacht worden ist. Der alte Hausarzt existiert allenfalls noch als anthroposophischer, homöopathischer oder radikaler Naturheilarzt, der meist auf privater Abrechnungsbasis handelt.

Alle Rationalisierungsversuche mißachten, dass ärztliches Handeln in seinem Kern ein Erfahrungshandeln ist, das nicht mit den Gewissheiten des Technikers, des Chemikers oder des Physikers auf den Patienten trifft. Da er nicht nur Krankheiten vor sich hat, sondern leidende Kranke zu behandeln hat, darf der Arzt letztendlich nicht nur objektiven Weltbildern folgen, das kategorische Handlungsimperative abverlangt. Es zählt keineswegs nur, was auf dem Hintergrund der verfügbaren Erkenntnisse vorgeschlagen und durchgeführt wird. Aber das Gewissen des Arztes aber verliert zunehmend gegenüber dem Wisseneinsatz, der sich nach allgemeinen Qualitätsstandards und der zunehmenden Verrechtlichung des Handelns ausrichtet.

Aber selbst im Rahmen eines cartesianischen Selbstverständnisses existiert eine prinzipielle Unsicherheit des medi- zinischen Urteilens, was sowohl an der Begrenztheit des verfügbaren Wissens als auch in der Komplexität des indi- viduellen Krankheitsgeschehens liegt. So prinzipiell grenzenlos der Fortschritt hinsicht- lich naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auch sein mag, der Illusion darf nicht verfallen werden, dass sich wissenschaftliche Erkenntnisse völlig den biologischen Organisationsprinzipien der menschlichen Natur an- schmiegen könnten. Der Handlungskreis der technologischen Vernunft zeigt deshalb sehr schnell seine Grenzen. Vorproduziertes Expertenwissen kann offenbar selbst bei optimaler Ausbildung gar nicht punkt- genau realisiert werden. Und nicht nur dies: Auch die oftmals nur mit Achselzucken bedachten Nebenwir- kungen verlangen einen in die Höhe schießenden Preis.

Es herrscht eine erstaunliche Blindheit vor, die in der alternativmedizinischen Kritik gipfelt, dass es das me- dizinische System selbst ist, das schon längst durch seine Eingriffe Funktionsstörungen, Krankheitsur- sachen und Tote produziert. Bei letzterem ist nicht nur an die Patienten zu denken. Die weiblichen Ärzte im Alter von 40 bis 55 Jahren sind mit Abstand  die größte Personengruppe der Gesellschaft, die durch Selbst- mord ihrem Leben ein Ende setzt. Hier kommt inzwischen vieles Zusammen. Das Alleingelassen-Sein der Patienten und das Fehlen einer moralisch-praktischen Klugheit im Verhalten geht eine Koexistenz mit dem extensiven Einsatz des technisch Möglichen ein, das oftmals sorglos praktiziert wird und selbst zu einem Gesundheitsrisiko geworden ist: Der Mensch gerät durch die wissenschaftliche Medizin selbst in existen- tielle Not.

Der Umgang mit Unsicherheiten stellt sich mithin als eine Frage der Praktiken, die bereits an einem Punkt gestellt werden muss, der vor einer eklatanten Funktionsstörung oder Krankheit liegt. Was wird nötig, wenn das Wohlbefinden zerfällt und das Gesundheitsgefühl zerrinnt? Auf diesem für sie pathologisch befundlosen Feld vermag die Universitätsmedizin nicht die geringste Antwort. Sie kleidet zu oft nur lebenspraktischen Vorverständnissen folgende Urteile mit wissenschaftlichen Albernheiten ein. Liegt nun in den mit der Alter- nativmedizin gegebenen energetischen Praktiken ein Widerstandpotential, das dem ärztlichen Handeln seine Sphäre als an die Erfahrung gebundenes Verständnis zurückgibt?

Auch wenn deren Methoden zunehmend ebenso instrumentell wie eine Operation eingesetzt werden, so rückt wegen ihnen der Arzt doch wieder näher an das Lebendige heran, . Mit ihrer Hilfe soll keine eine Funktionsstörung oder Krankheit bekämpft werden, sondern zarte Reize auf Vitalschichten gesetzt werden, um starre Empfindlichkeitsmuster und geringe Schwingungsvarianten des Organismus aufzulösen. Je näher aber therapeutische Praktiken an die Frage der verminderten Lebendigkeit heranrücken, ist wiederum auf den zwischenmenschlichen Kontakt verwiesen.

Die Atemthematik akzentuiert mit ihrer vitalen Pathie auf eine anthropologische Weise den Wert der Part- nerschaft und lädt zur sozialen Teilhabe ein. Sie stellt die brüderliche Frage des Miteinanderseins als eine Grundbedingung der conditio humana. Die westliche Atemarbeit weiß gerade durch Volkmar Glasers Inter- pretation der chinesischen Meridianlehre, dass im Leib verbindende und unterscheidende Strukturprin- zipien des Menschseins zum anderen wirken und alle biografische und psycho-soziale Entwicklung sich darin entscheidet, ob und wie sie ihre Integration erfahren. Offenbar wird deren Integration besonders bei Ärztinnen durch den überkommenen Paternalismus des Medizinsystems verletzt. Verspricht die Atemfrage darüber Aufschluss zu geben, wie die Ganzheitlichkeit und Autonomie des menschlichen Organismus gegen alle technologischen Zugriffe, medizinische Eingriffe und soziale Bemächtigungen zu sichern ist? Aber darauf könnte nur eine soziale Bewegung die Antwort geben, durch welche auch die Atemfrage zum Tanzen gebracht wird.

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